Peter Schulz-Hageleit: Vom "Unbehagen in der Kultur" zur Trauer über Geschichte. Studien zur Psychohistorie des Geschichtsbewusstseins, Heidelberg: Springer-Verlag 2016, XVII + 198 S., ISBN 978-3-658-10963-9, EUR 29,99
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Die von Peter Schulz-Hageleit vorgelegte Studie "Vom 'Unbehagen in der Kultur' zur Trauer über Geschichte. Studien zur Psychohistorie des Geschichtsbewusstseins, Springer VS 2016" hätte ein bedeutendes Werk werden können. Der Autor, Jahrgang 1939, ist zweifelsohne ein ungemein belesener und hochgebildeter Mann, der alles zur angekündigten Thematik gelesen hat und anschaulich zu präsentieren vermag. Das von ihm vorgelegte Buch umfasst fünf Teile und alles in allem 16 gut lesbare Kapitel. Freilich ist nicht zu übersehen, dass der umfassend gebildete Autor, seines Zeichens emeritierter Professor, sich vor allem als Didaktiker versteht. Das mag dazu geführt haben, dass er sein umfassendes, systematisches Wissen im vorliegenden Buch so aufbereitet hat, dass der Leser sich bei der Lektüre in eine PowerPoint gestützte Vorlesung versetzt fühlt.
Gewiss: Schulz-Hageleit verfügt über alle Dimensionen der anspruchsvollen Thematik, von der Philosophie der Geschichte über die Kunstgeschichte und ihre Abbildungen von Trauer bis hin zur Trauer in der Musik. Schon in der Vorbemerkung zu seinem Buch fasst der Autor das, was er seiner Leserschaft im Buch präsentieren möchte, in einem "roten Faden" selbst zusammen: "Trauer ist eine Dimension unseres kritischen (Gefühl und Verstand verbindenden) Geschichtsbewusstseins, das die geschändete und gemordete Welt mit allen ihren Menschen neu belebt, damit ihr Anblick als gesellschaftliches Ungenügen in Gegenwart und Zukunft eingeht. Das Problem ist: Der Menschheit und ihrer Geschichte fehlt ein 'geistiges Organ' für Trauer über ihre Geschichte. Im Unterschied zur persönlich-existenziellen Trauer ist Trauer über Geschichte nicht nur zu fühlen, sondern auch, ja mit Nachdruck, zu denken." (Dieser Vorsatz befindet sich am Anfang des Buches auf einer nicht nummerierten Seite).
Der Autor kommt diesem Anspruch nach, indem er - von Freud und Benjamin ausgehend - Materialien und Themen präsentiert, die kultur-, geistes- und intellektualgeschichtlich mit dem Phänomen der Trauer befasst sind. Von besonderer Prägnanz ist dabei ein ganz und gar eigenständig zu lesendes Kapitel über den britischen Historiker Edward Gibbon und dessen Werk über den Untergang des römischen Reiches; ein Kapitel, in dem sich Schulz-Hageleit mit dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Philosophie der Geschichte auseinandersetzt.
So gut und übersichtlich gegliedert die Fülle des Materials jedoch, so hilfreich die im Anhang jedem Kapitel beigegebenen Zitate wesentlicher Autorinnen und Autoren auch sind, so fällt doch immer wieder ins Auge, dass es sich bei dem vorliegenden Text nicht um ein Buch, um ein in sich geschlossenes Werk handelt, sondern um eine gleichsam in Buchstaben gegossene PowerPoint Vorlesung - was vor allem an den vielen, farblich minderwertigen Abbildungen deutlich wird, die das, was sie präsentieren sollten, geradezu verderben.
Bei alledem beharrt der wesentlich von Sigmund Freuds Denken geleitete Autor zu Recht darauf, dass die Subjektivität, das Selbstverständnis der sich mit der traurigen Vergangenheit ihrer eigenen Nation auseinandersetzenden Individuen, auf jeden Fall zu berücksichtigen ist. Mit klarer Bezugnahme auf die Psychoanalyse stellt der Autor fest, dass die Einsicht in individuelle und kollektive Täterschaft - ein auch die heutigen Deutschen noch immer umtreibendes Problem - immer vom individuellen und kollektiven Narzissmus behindert wird. Indes: Auch andere europäische Nationen unterliegen diesem Verdrängungsprozess.
Am Ende seines Buches zieht der Autor noch einmal Bilanz und stellt sein eigenes Projekt zur Diskussion: "Historisch-politische Trauerarbeit als Annahme eines geschichtlich-lebensgeschichtlichen Vermächtnisses" (163) - ein Projekt, das aus wesentlich drei Kernforderungen besteht: dem Bewusstmachen von uneingelösten Hoffnungen und Versprechen der Vergangenheit, dem Benennen und Beklagen unnötiger Einschränkungen oder Zerstörungen guten Lebens, der Opfer der Geschichte so zu gedenken, dass man sich ihrer nicht nur rituell erinnert, sondern ihr Leben in gewisser Weise in unsere Erfahrungen eingeht. Dabei - und darauf legt der Autor besonderen Wert - komme im schulischen Unterricht alles darauf an, das Unglück der Geschichte und der unter ihr leidenden Menschen so zu präsentieren, dass diese Präsentation bei Schülerinnen und Schülern weder zu Entmutigung und Resignation noch zu Zynismus führt.
Mit seinem vorläufig letzten Buch hat der erfahrene Geschichtsdidaktiker Peter Schulz-Hageleit nicht weniger als eine Summe seiner ganzen bisherigen Praxis und ihrer theoretischen Grundlagen vorgelegt. Seine Thesen, Reflexionen und Materialhinweise erweisen sich so als unverzichtbare Grundlagen für eine systematisch begründete Theorie der Vermittlung vor allem der jüngeren deutschen Geschichte, wenngleich - wie schon oben bemerkt - das vorliegende Buch eine ruhigere, systematischere Form verdient hätte.
Micha Brumlik