Bärbel Völkel: Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017, 239 S., ISBN 978-3-7344-0475-7, EUR 21,50
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Elsbeth Bösl / Anne Klein / Anne Waldschmidt (Hgg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2010
Kann es Zeitbewusstsein auch ohne die Fähigkeit geben, Geschichte zu erzählen? Diese Frage ist vor allem auch im Kontext von Inklusion und der mit ihr verbundenen Hinwendung zu Schülerinnen und Schülern mit vielfältigen Begabungen und Beeinträchtigungen von maßgeblicher Bedeutung. Bärbel Völkel versucht mit ihrem Buch "Inklusive Geschichtsdidaktik" dieser und weiteren Fragen nachzugehen, die sich mit dem Verhältnis von Subjekt, Gesellschaft und Geschichte befassen. Gleich vorweg: Völkel beantwortet die eingangs gestellte Frage mit einem deutlichen "Ja".
Was Völkel mit ihrem Buch anstrebt, ist nicht weniger als eine neue theoretische Fundierung der Geschichtsdidaktik. Dabei bezieht sie sich vor allem auf das philosophische Fundament der Phänomenologie, schwerpunktmäßig demjenigen Husserls und Merleau-Pontys. Sie verknüpft diese Ansätze auch mit denen Foucaults und anderer, vor allem in den 'Disability Studies' prominent rezipierter Autoren. Dabei unternimmt sie den Versuch, den Anschluss an die geschichtsdidaktische Theoriebildung zu finden.
Worum genau geht es Völkel? Vor dem Hintergrund einer Welt, die von Flucht- und Migrationsbewegungen und einer insgesamt stärker akzeptierten (und wahrgenommenen) Vielfalt geprägt ist, müsse sich die Geschichtsdidaktik stärker mit kultureller, aber "auch geistig-kommunikative[r] Andersheit" auseinandersetzen (7). Die nicht selten beklagte Kluft zwischen der Theorie und Pragmatik des Geschichtsunterrichts solle geschlossen werden. Diese besteht laut Völkel deswegen, weil es einen generellen Fehler der geschichtsdidaktischen Theoriebildung gibt: "Die Erzeugung von historischem Sinn gehört genuin in den Bereich von Geschichte als Wissenschaft. Sie [die Geschichte als Wissenschaft] ergibt sich aus gesellschaftlichen Orientierungsbedürfnissen" (107). Weder Wissenschaft noch gesellschaftliche Bedürfnisse aber seien deckungsgleich mit individuellem Orientierungsbedarf, sodass der für die Gesellschaft zugrunde gelegte Narrativitätsbegriff nicht zwangsläufig auch für Individuen gelte. Die Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler durch den Geschichtsunterricht erlangten, wären somit keine, die "sie im Leben brauchen können" (109).
Was müsste also geändert werden? Völkel denkt Subjektorientierung weiter als bisherige Theorien, insofern sie in das Konzept "Leib" aus dem phänomenologischen Kontext auch solche Formen der zeitlichen Orientierung verortet, die ohne Sprache und letztlich ohne intersubjektive Verständigung auskommen. Der "Leib" wird als die Schnittstelle von "Geist und Körper, Kultur und Natur im Menschen" (69) gesehen. Historische (Sinn)Bildung leiblich verstanden würde demnach bedeuten, dass jeder Mensch per se an ihr teilhat. Im "Körperwissen" des Leibes zeige sich somit auch individuelles historisches "Wissen", welches auch durch die Bewegung in Raum und Zeit aufgebaut werde, letztlich also durch die Existenz an sich.
Nach einem einleitenden Kapitel, in dem Völkel den "Sinn und Zweck des Geschichtsunterrichts heute" analysiert, problematisiert sie in den folgenden beiden Kapiteln Problemfelder wie "Geschichte und Dominanzkultur" in einer eurozentrischen Wissenschaft und die damit verbundenen Exklusionen von Menschen. Die folgenden sechs Kapitel befassen sich mit dem "Leib" in Raum und Zeit, der Bedeutung der Sinne für die Sinnbildung und einem leiblichen Konzept historischer Bildung auch für Menschen mit schwersten (kognitiven) Beeinträchtigungen. Die letzten beiden Kapitel fordern normativ auf dieser Basis die Hinwendung zu einer dialogischen Geschichte für die inklusive Gesellschaft, worunter verstanden wird, dass sich die Dialogpartner ihrer leiblich gewachsenen "place identity" (216) bewusst werden und das jeweilige Handlungswissen des "Anderen" "respektiert und zum Ausgangspunkt von Selbstthematisierungen im Geschichtsunterricht gemacht wird" (229). Die Leiblichkeit wäre somit Ausgangspunkt einer gleichberechtigten Auseinandersetzung mit den Geschichten aller.
Intellektuell ist das Buch äußerst anspruchsvoll und enthält erfrischende Gedanken für die geschichtsdidaktische Theoriebildung, insofern dem Körper und dem Körpererleben eine größere Rolle als bisher zugemessen wird. Unter "inklusiven" Gesichtspunkten ist das Buch jedoch außerordentlich problematisch. Die gewählte Sprache ist komplex, nicht leicht zu durchdringen und oft an der Grenze zum Esoterischen. Dies ist sicherlich der Phänomenologie zuzuschreiben, die jenseits jeglicher Erfahrungssättigung komplexe Theoriegebilde aufbaut. So finden sich zahlreiche Satzkonstruktionen wie dieses Beispiel aus Kapitel sieben, welches sich mit dem Verhältnis des "Anderen" und dem "Selbst" befasst: "Mit der Abstraktion von mir selbst und der Erfahrung eines mit mir da Seienden erschließt sich eine grundlegende Welt 'für jedermann' das Für-jedermann-da-und-zugänglich-sein; Jedermann-in-Leben-und-Streben-etwas-angehen-oder-nicht-angehen-können" (125).
Aber auch aus anderer Sicht ist Völkels Ansatz problematisch, und auch dies ist der Phänomenologie geschuldet: Viele der vorgebrachten Annahmen führen in der Praxis zu einer vollkommenen Fremdbestimmung über die Personen, um die es geht. Insofern sich Sinn als "leiblicher" Sinn zeigt, "der sich nicht aus Akten der Auffassung oder der Interpretation direkt ergibt und auch nicht primär aus Narrativierungen" (97), ist er der intersubjektiven Überprüfbarkeit entzogen. Für die Praxis bedeutet dies nichts anderes, als dass völlig beliebig ist, was im Geschichtsunterricht passiert, da nicht beobachtet werden kann, was im "Leib" des Anderen vor sich geht. Dem "Anderen" wird allerdings unterstellt, dass etwas passiert, insbesondere dann, wenn angenommen wird, dass über "Bewegungserfahrungen" Kommunikation über Raum und Zeit hergestellt würde (156). Insofern also davon ausgegangen wird, dass Menschen mit komplexen Behinderungen (Schwerstbehinderungen), die nicht über verbalsprachliche Fähigkeiten verfügen, ebenso wie alle anderen über Bewegungen Sinnstiftung erfahren, werden diese genau dann fremdbestimmt, wenn sie in Unterrichtssituationen gebracht werden, bei denen weder erkennbar ist, ob sie dies wünschen, noch erkennbar ist, ob Sinnstiftung tatsächlich erfolgt. Es findet kein gleichberechtigter Dialog statt. Es gibt außerhalb des Geschichtsunterrichts zahlreiche Beispiele für diese Form der Fremdbestimmung behinderter Menschen durch "Experten", etwa wenn schwerstbehinderte Kinder in ihrem Rollstuhl Teil von Theaterstücken sind, bei denen sie von Betreuern im Raum umher geschoben werden und dies als "Teilhabe" verkauft wird.
Trotz der genannten kritischen Punkte bleibt zusammenfassend allerdings anzuerkennen, dass Bärbel Völkel einen ersten Aufschlag für eine Erweiterung der geschichtsdidaktischen Theoriebildung in Zeiten der Inklusion vorlegt. Dies ist auch notwendig, denn die Geschichtsdidaktik ist trotz vieler theoretischer Arbeiten insofern theoriearm, als dass diese alle mehr oder weniger auf denselben Kern - die Narrativität - zurückgreifen. Ob dies für die Herausforderung der Inklusion reicht, muss diskutiert werden. Völkels Buch ist hierfür ein Impuls.
Sebastian Barsch