Robert Stein: Magnanimous Dukes and Rising States. The Unification of the Burgundian Netherlands, 1380-1480 (= Oxford Studies in Medieval European History), Oxford: Oxford University Press 2017, XV + 315 S., 3 Kt., zahlr. s/w-Abb., zahlr. Tbl., ISBN 978-0-19-875710-8, GBP 85,00
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Es ist die alte und nach wie vor vieldiskutierte Frage: Kann man das Burgund der großen Herzöge, ein vielgestaltiges Gebilde sui generis, als Staat bezeichnen, und - so man das tut - seit wann war dieser existent? In jedem Fall spielt für die Thematik der bereits mit dem ersten der Herzöge, Philipp d. Kühnen (1363-1404), einsetzende Ausgriff in die Niederlande eine entscheidende Rolle, da der Anfall gleich mehrerer dortiger Territorien von unterschiedlicher Tradition und ausgeprägtem Eigenprofil, wie es etwa Flandern, Artois, Hennegau, Brabant-Limburg, Namur, Holland-Seeland oder Luxemburg waren, natürlich Regularien für die dortige Administration, Justiz und Finanz verlangte, wollte man es nicht bei bloßer Personalunion belassen. Viele Gelehrte von Rang, von Pirenne und Huizinga über Vaughan, Prevenier und Blockmans bis hin zu Cauchies und Schnerb sind dem schon nachgegangen, und auch der Leidener Historiker Robert Stein hat sich dazu bereits mehrfach geäußert, am ausführlichsten in seiner 2014 erschienenen Monografie: De hertog en zijn Staten: De eenwording van de Bourgondische Nederlanden. Sie fand - mit gewissen Ausnahmen - ein durchaus positives Echo, das im Wesentlichen indes auf die des Niederländischen kundige Spezialforschung beschränkt blieb. [1] Wenn schon geklagt wird, international gelte nur zu oft 'Germanica non leguntur', um wie viel mehr trifft dies erst auf Neerlandica zu; logische Konsequenz war mithin die anzuzeigende, auf einen größeren Rezipientenkreis zielende Übersetzung besagten Buchs, dessen Autor im Übrigen - wie viele seiner holländischen Fachkollegen - über Burgundica schon wiederholt auch in Englisch und Deutsch gehandelt hat.
In der klar strukturierten, die einzelnen Schritte des Vorgehens stets begründenden und jedes Kapitel mit einer konzisen Zusammenfassung beschließenden Studie fokussiert der Verfasser den Blick auf die Zeit Philipps d. Guten (1419-1467), weil sich unter ihm die entscheidende Phase jener Expansion in den Norden vollzog, die auf unterschiedlichsten Wegen - etwa über Erbansprüche, Ausnutzung dynastischer Schwierigkeiten und Heirat wie auch mit diplomatischem Druck, militärischer Gewalt und immer wieder mit Geld - erfolgreich vorangetrieben wurde, und zwar auf Reichsgebiet, ohne dass ein römisch-deutscher Herrscher dem wirksam hätte entgegentreten können. Doch steht hier weniger die verwickelte, indes bekannte Ereignisgeschichte im Vordergrund als vielmehr jener Prozess der Etablierung Burgunds in den Niederlanden im Spannungsfeld von Herrscher und Untertanen, von Hof und ständischen wie städtischen Institutionen des Nordens - es geht Stein also um eine Geschichte aus zwei Perspektiven, ja sogar vorrangig aus derjenigen der Provinzen. In solchem Widerspiel vereinheitlichender und partikularisierender Tendenzen erweist sich Burgund nun keineswegs als 'État centralisateur', sondern - wie im Anschluss an John H. Elliott formuliert wird (man hätte ebenso auf Helmut G. Koenigsberger rekurrieren können) - als composite monarchy (12), was sich auch in der 15 Herrschaften anführenden Titulatur Philipps d. Guten oder in jenem vergoldeten Paneel spiegelt, das für die Hochzeit Karls d. Kühnen mit Margarete von York 1468 in Brügge angefertigt wurde und das herzogliche Wappen von denen seiner 17 Fürstentümer umrahmt zeigt (12, 15ff.).
Rezensent als Konzilshistoriker nimmt überdies erfreut zur Kenntnis, dass in diesem Kontext auch eine entsprechende Passage aus der ansonst weniger bekannten, am 26. Mai 1433 gehaltenen Antrittsrede des burgundischen Gesandtschaftsleiters auf dem Basler Konzil, Bischof Jean Germain von Chalon, Erwähnung findet (257); doch scheint im Übrigen hier wie generell das kirchliche Burgund zwischen Utrecht und Cambrai - aus welchen Gründen auch immer - weit weniger Forschungsinteresse als etwa das höfische zu finden.
Der Begriff der composite monarchy trifft insofern, als mit dem Eintritt Burgunds zwar die regionalen Höfe entfielen und der herzogliche nunmehr als einziger verblieb (wodurch nach Stein der regionale Adel einen - durch die Gründung des Vliesordens nur partiell und in der Spitze aufgefangenen - Bedeutungsverlust erlitt), allein der neue Herrscher konnte die alten Regierungsstrukturen wie auch bestehende persönliche Loyalitäten und Abhängigkeiten in den einzelnen Territorien nicht einfach von oben herab zentralistisch wegreformieren, zumal er auf Geld und Abgaben der Stände und insbesondere der Städte angewiesen war und obendrein seine in der Regel schwache dynastische Legitimation bedenken musste. Beide Faktoren erklären wesentlich mit den Fortbestand der alten Fürstentümer im Rahmen des neuen Burgund: "The Dukes had power, but the States had influence" (257). Unter Philipp d. Guten funktionierte dieses den Kräften im Norden manche Privilegien und Konzessionen eintragende Geben und Nehmen leidlich - wobei Stein allerdings die ländlichen Regionen und Peripherien wie auch den gesamten militärischen Bereich kaum in den Blick nimmt -, selbst wenn der Prozess der 'Burgundisierung' in jedem Fürstentum anders verlief und nirgends zu einem definitiven Abschluss gelangte. Zustatten kam dem Herzog dabei, dass er allerorten hochverschuldete und von internen Konflikten gezeichnete Lande übernommen hatte und ihnen zu gewisser Stabilität verhalf, von der wiederum gerade die den dritten Stand bildenden regionalen und lokalen Eliten profitierten: Für sie verband sich Burgund fortan mit ökonomischer Prosperität, schriftbasierter Rechtssicherheit sowie einem verlässlichem Münzwesen ('Vierlander') und, so Philippe de Commynes (vgl. 159), mit Frieden. Dafür willigten sie, versehen mit besagten Privilegien, in die immer regelmäßigere und steigende Zahlung von Steuern und Hilfen ein. Mithin legten sie es keineswegs auf Fundamentalopposition an (hierzu aber kritisch Jelle Haemers in seiner hier Anm. 1 zitierten Rezension), zumal sie ohnehin in ausgleichsbedachter konstitutioneller Tradition standen (Brabant) oder eine friedliche Kohabitation pflegten (nördliche Fürstentümer); gefährlich war für den Herzog wie sie selbst die Masse der Machtlosen in den Großstädten allen voran Flanderns.
Vorhandene Verwaltungen blieben also bestehen, wurden aber vom Hof nach dem Vorbild der Pariser Behörden umgestaltet und insbesondere durch stetig an Bedeutung gewinnende studierte Räte modernisiert. Vor allem im Finanzwesen führte dieser Modernisierungsprozess zu einer für die Zeit beeindruckenden Professionalität und Effizienz, wie sich vor allem an der Tätigkeit der Rechenkammer in Lille ablesen lässt, doch ohne dass es selbst hier, wo Zentralisierungstendenzen unverkennbar sind, zur Vereinheitlichung oder gar Einheit gekommen wäre: "The union was not in fact a unit but an association, the 'Burgundian state' was the dream, the composite monarchy was the reality" (151). Als Karl d. Kühne sich daranmachte, das einigermaßen austarierte Wechselspiel durch eine forcierte Zentralität zu ersetzen, war das Scheitern unausweichlich. Auch dies lag einmal mehr, so möchte man hinzufügen, in der Persönlichkeit des Temerarius beschlossen und zwar hier in seinem fehlenden Gespür für Burgunds fragile Einheit und Einzigartigkeit in Diversität. Darum ist auch hinter die in der Literatur immer wieder begegnende Ansicht, ein burgundischer Staat sei mit Karl Wirklichkeit geworden, ein Fragezeichen zu setzen. [2] Es gab diesen Staat nie, so Stein [3], sehr wohl aber einen sich entwickelnden Prozess der Staatsformung, dem der Temerarius ein Ende bereitete. Erst unter dem Signum der Kontinuität eines Philipp ähnlichen Nachfolgers - so die unausgesprochene, allein sich aufdrängende Schlussfolgerung - hätte Burgund sich zum Muster einer Monarchie auf der Basis föderalstaatlicher Ordnung entwickeln können, doch war im Zeitalter Philipps zumindest schon eine von Bürokratisierung und damit auch von professionellen Amtsträgern im Verein mit ständischen Kräften getragene etatistische Genese in Gang gesetzt worden, die über alle folgenden Unterbrüche hinweg - so Steins explizit ausgesprochene 'Summa summarum' - ihre Auswirkungen auf den niederländischen Raum bis weit in die Neuzeit hatte: "Both the composition of the Spanish Netherlands and of the Dutch Republic were characterized by regional and local diversity [...]. In the south a composite monarchy developed, in the north a composite republic" (264).
Vorzustellen war ein Buch, dem wohl erst jetzt dank der Übersetzung ins Englische die verdiente Rezeption und Resonanz zuteilwerden dürfte. Mit seiner überzeugenden Argumentation, die in sprachlicher Klarheit ihr Äquivalent findet, gelingt es Stein, einem vielbehandelten Thema burgundischer Geschichte dank präziser und konsequent durchgehaltener Fragestellung neue und wichtige Facetten abzugewinnen. Hier kleinere formale Unstimmigkeiten und Flüchtigkeitsfehler in Anmerkungen und Bibliografie auflisten zu wollen, käme Beckmesserei gleich angesichts der erbrachten Leistung, bei der auch die (nach Haemers allerdings unvollständige) Verarbeitung und Präsentation der einschlägigen niederländischsprachigen Forschung gewürdigt sein will, die ansonsten kaum über besagten Spezialistenkreis hinaus zur Kenntnis genommen würde. Doch eine Rand- oder genauer: Titelfrage sei am Ende noch gestellt: Warum hat der ursprünglich neutrale Titel "De hertog en zijn Staten" nunmehr im Englischen eine positive, Pracht und Aufstieg assoziierende Konnotation erhalten? Wird damit - vielleicht weniger von Seiten des Autors als des Verlags - nicht ein Klischee à la 'Glanzvolles Burgund' oder 'Splendeurs de la cour de Bourgogne' bedient, nach dem man in Steins Ausführungen vergeblich suchen wird?
Anmerkungen:
[1] S. etwa Arie van Steensel, in: TvG 127 (2014), 706ff.; Jean-Marie Cauchies, in: PCEEB. Bull. d'information 68 (oct. 2014); Marie van Eeckenrode, in: RBPH 93 (2015), 586f.; Gilles Genot, in: Hémecht. Revue d'histoire luxembourgeoise 67 (2015), 226-229; Eef Overgaauw, in: DA 72 (2016), 807f. Ebenfalls Aron de Vries, in: http://historischhuis.nl/recensiebank/review/show/779; Johan van de Worp, in: actahistorica.nl/.../de-hertog-en-zijn-staten (beide konsultiert am 9.12.2017). In etlichen Punkten negativ dagegen die Rezension von Jelle Haemers, in: Tijdschrift voor sociale en economische geschiedenis 11 (2014), 185ff. Stein hat übrigens auf seiner Website (der Universität Leiden) ein Video eingestellt, in dem er sich selbst zu seinem Buch äußert; es ist auch einsehbar unter https://vimeo.com/84068789.
[2] So zuletzt noch kurz Michael Depreter: Charles le Hardi devant Nancy (1476/77): Folie suicidaire, stratégie militaire ou crise de l'État bourgouignon?, in: Pour la singuliere affection qu'avons a luy. Études bourguignonnes offertes à Jean-Marie Cauchies (= Burgundica; Bd. 24), hg. v. Paul Delsalle u.a., Turnhout 2017, 177f.
[3] Aus anderer Perspektive gelangte kürzlich Élodie Lecuppre-Desjardin zu ebensolcher Schlussfolgerung, um mehr oder minder die gesamte Herrschaft der Burgunderherzöge als gescheitert darzustellen: Le royaume inachevé des ducs de Bourgogne (XIVe-XVe siècles), Paris 2016.
Heribert Müller