Deutsches Historisches Museum / Schweizerisches Nationalmuseum (Hgg.): 1917 Revolution. Russland und die Folgen. Essays, Dresden: Sandstein Verlag 2017, 200 S., 69 Farb- und s/w-Abb., ISBN 978-3-95498-274-5, EUR 34,00
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Dass die "Zehn Tage, die die Welt erschütterten", wie John Reed sein berühmtes Buch über die russische Oktoberrevolution nannte, in die Jahre gekommen sind, hat man am Zentenarium der Russischen Revolution gemerkt. Als historischer Orientierungspunkt, von dem essentielle Hoffnungen oder existenzielle Befürchtungen ausgehen, hat sie weitgehend ausgedient, selbst in Russland. Aber sie bleibt dort, wie der Petersburger Historiker Boris Kolonickij feststellt, "ein Gegenstand des politischen Gebrauchs, und das Verhältnis zur Revolution bleibt ein wichtiger Marker politischer Ansichten". Das Zitat ist dem Beitrag "Unvorhersehbare Vergangenheit" entnommen, einem von zwölf Essays aus der Feder namhafter Historiker, die in der hier zu besprechenden Begleitpublikation der Jahrestags-Ausstellungen des Schweizerischen Nationalmuseums (24.2. bis 25.6.2017) und des Deutschen Historischen Museums (20.10.2017 bis 15.4.2018) präsentiert werden. Als Kolonickij seinen Beitrag schrieb, stand das "Jubiläum" noch bevor, wobei die Verwendung dieses positiv besetzten Begriffs in Russland weitgehend den Kommunisten überlassen wurde, weil in der allgemeinen Wahrnehmung der Revolution die negativen Seiten überwiegen.
Kolonickij sagte eine "Schlacht der Historikerkommissionen" voraus (170), einen Aufschwung verschwörungstheoretischer Ansätze und das Scheitern von oberflächlichen Bemühungen einer nationalen Versöhnung, weil dem das mächtige kulturelle Gedächtnis entgegenstehe. Nach zahlreichen Kolloquien, Konferenzen [1] und anderen Maßnahmen, von denen ein großer Teil unter der Ägide eines eigens gebildeten Organisationskomitees stand, stellte dessen Vorsitzender Sergej Naryschkin - der der Russischen Historischen Gesellschaft vorsitzt, aber im Hauptberuf den Auslandsgeheimdienst SWR leitet - im Januar 2018 bilanzierend fest: "Die Erinnerung an die Revolution hat aufgehört, unsere Mitbürger zu spalten." [2] Zugleich erinnerte er an einen anderen hundertsten Jahrestag, den der Auflösung der russischen verfassungsgebenden Nationalversammlung durch die Bolschewiki im Januar 2018, auf den der "erniedrigende Frieden von Brest-Litowsk" und der Bürgerkrieg gefolgt seien. Wenn auch die von Kolonickij prognostizierten "Schlachten" nicht oder jedenfalls nicht so dramatisch, wie der Begriff das nahelegt, stattgefunden haben, ist die von dem Regierungs-Politiker Naryschkin beschworene Überwindung der Spaltung doch auch keineswegs allumfassend. In einer Verlautbarung des Moskauer Stadtkomitees der Kommunistischen Partei der Russischen Revolution heißt es zu diesem Thema "Eine Verbrüderung wird es nicht geben". Auch eine neue Revolution wird nicht ausgeschlossen, wenn das nötig sein sollte, um den Menschen in Russland humane Existenzbedingungen zu ermöglichen - wie sie die KP versteht. [3] Der Präsident der Russischen Adelsvereinigung, Fürst Schachowskoj hatte dagegen die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 bei einer Konferenz in der Christus-Erlöser-Kathedrale im Februar 2017 einen "Genozid am russischen Volk" genannt. [4] Das bezog sich auf die Februar- und die Oktoberrevolution gleichermaßen. Der gerade erst als Leiter des Instituts für strategische Studien des Auslandsgeheimdiensts in Ruhestand gegangene promovierte Historiker Leonid Reschetnikow stieß ins gleiche Horn: "Jede Revolution führt zum Untergang." [5] Die Februarrevolution als (gescheiterte) Chance für das Beschreiten eines demokratischen Wegs zu würdigen, blieb der liberalen Oppositionspartei "Jabloko" überlassen, die eine Reihe prominenter Historiker zu einem Workshop einlud. Bei dieser Gelegenheit wurde auch allerhand Kritik an offiziösen Versuchen einer geschichtspolitischen Bewusstseinssteuerung laut. [6]
Die Februarrevolution fügt sich am wenigsten in eine die Lager überwölbende Haltung ein, die man als "imperialen Konsens" beschreiben könnte: Die Revolution wird aus dieser Perspektive vor allem wegen des Zerfalls des russischen Imperiums negativ bewertet, das indes unter der Sowjetmacht eine Wiederauferstehung in neuem Gewande erlebte. Unter diesem breiten Dach können sich auch Vertreter ganz gegensätzlicher Lager finden, dezidierte Liberale und demokratische Sozialisten müssen allerdings draußen bleiben. Trotz aller Gegensätze gibt es kein Reenactment der Revolution, das historische Trauma des Bürgerkriegs ist zu präsent.
Der Blick auf die Revolution als Gewaltereignis prägt auch stark den zu besprechenden Band. Die Revolution habe einen "Raum der Gewalt" eröffnet konstatiert Jörg Baberowski in seinem Eröffnungs-Beitrag über "Die Russische Revolution und die Neuordnung der Welt". Die daraus resultierende Furcht vor "russischen Verhältnissen" oder "bolschewistischem Terror" - beides ist nicht dasselbe, der erste Begriff umfasst auch den "weißen Terror" - hatte durchaus eine reale Basis. Die Herausforderung war gewaltig und zuweilen auch gewalttätig. Dennoch ist es überzogen zu behaupten, es habe "auch jenseits der sowjetischen Grenzen keine einzige politische Frage mehr [gegeben], die nicht auch eine Antwort auf die Russische Revolution gewesen wäre". Insbesondere sind die faschistischen Bewegungen nicht einfach als "Antwort auf die kommunistische Bedrohung" zu verstehen. Sie wurzeln tiefer in der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und zum Teil schon davor.
"Die Ursachen der russischen Revolution und die Prägungen der Akteure" lautet der Titel des folgenden Beitrags, in dem Heiko Haumann nicht nur einen ebenso vielschichtigen wie konzisen Überblick gibt, sondern die Analyse der politischen und sozialen Strukturkonflikte durchaus produktiv mit dem Konzept der Lebenswelten anreichert. Die Lebenswelten waren in Bewegung, auch physisch. Das kann man anschaulich aus Fritjof Benjamin Schenks Aufsatz über die Bedeutung der Eisenbahn - die "Schienen der Macht" - für die Revolution lernen. Igor Narskij verdeutlicht in seinem Beitrag "Die Zerstörung des Landes und der Bauernkrieg", die konkrete Entfaltung des "Gewaltraums" auf dem Land. Nach seiner Auffassung pendelte "das Dorf" häufig zwischen "rot" und "weiß", suchte sich die passenden Machthaber in gewisser Weise aus und bewahrte inmitten des Bürgerkriegs und trotz der verheerenden Hungersnot von 1921 einen erheblichen Grad von Autonomie. Beendet wurde dieser Zustand erst mit der definitiven Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt im Zuge von Stalins Kollektivierung Anfang der 1930er Jahre.
Auf einen Beitrag von Julia Richers über die Schweiz als Exil für russische Revolutionäre folgen Aufsätze, die sich mit der kulturellen Dimension der Revolution auseinandersetzen. Jutta Scherrer thematisiert Zukunftsvisionen und Umbruchserfahrungen der russischen Intelligenzija, Felix Philipp Ingold setzt sich mit geistesgeschichtlichen Strömungen wie Skythentum und Panmongolismus auseinander, die nicht-westliche Antworten auf die Frage nach der russischen Identität geben. Ihre große Strahlkraft erreichte die Revolution aber nicht durch solche Nebenströmungen, sondern durch den Anspruch, ein befreiendes Zivilisationsmodell als Alternative zur bürgerlichen Welt zu schaffen. Sophie Cœuré und Gerd Koenen gehen der Attraktivität der damit erzeugten Mythen und Utopien nach, Martin Sabrow untersucht deren Implementation, Grenzen und Zerfall im geteilten Deutschland. Auf den eingangs erwähnten Essay von Boris Kolonickij folgt ein abschließender Beitrag von Cathrin Merridale über die "Lenin'sche Revolution". Am Ende dieses Essays finden sich Sätze über Lenin, die aufmerken lassen: "Mit beinahe übermenschlicher Kraft griff er die Schande der modernen Arbeitssklaverei an und stellte die Gewalt, die der auf Klassen beruhenden wirtschaftlichen Konkurrenz innewohnt, und ihre zerstörerische Wirkung auf Regierungen und Staaten an den Pranger. Er hat versagt, was von Anfang an unausweichlich war, aber einiges von dem, was er sagte, sollte uns zu denken geben. Gleich welches Urteil wir über 1917 fällen, die Versklavten und Besitzlosen fühlen sich immer noch wie Zaungäste bei unserer jahrhundertelangen Party für die Superreichen." Das ist ein effektvoller Schlussakkord für den Band, der bei genauerem Hinsehen aber auch seine Schwächen erkennen lässt. Denn so aufschlussreich die meisten Einzelbeiträge sind, bei der Komposition ist Wesentliches zu kurz gekommen. So werden die nichtkommunistischen Sozialisten, vor allem Sozialrevolutionäre und Menschewiki weitgehend übersehen, obwohl sie gerade in der ersten Phase der Revolution tonangebend waren und sogar in der von den Bolschewiki gewaltsam aufgelösten Verfassunggebenden Versammlung die Mehrheit stellten. Erst das Beschweigen der freiheitlich orientierten Strömungen des russischen Sozialismus, die Lenin brutal unterdrücken ließ, ermöglicht seine Apotheose. Und obwohl die Revolution nicht nur ihrem Anspruch nach eine Arbeiterrevolution war, die ihren Ausgang im Industriezentrum Petrograd hatte, wird auch die Arbeiterschaft, abgesehen von Haumanns Beitrag, kaum in den Blick genommen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die z.B. die jetzt publizierten Ergebnisse der durchaus ertragreichen großen Konferenz der historischen und der politologischen Fakultät der Lomonosov-Universität: Rossijskaja revoljucija v sovremennoj istoriografii i obščestvennoe mnenie, in: Stoletie Revoljucii 1917 goda v Rossii. Čast' 1, hg. von Moskovskij gosudarstvennyj universitet imeni M. V. Lomonosova, Istoričeskij fakul'tet, fakul'tet politologii, [Die russische Revolution in der gegenwärtigen Historiografie und die gesellschaftliche Meinung, in: Hundert Jahre Revolution von 1917 in Russland. Teil 1, hg. von Moskauer Staatliche Lomonosov-Universität, Historische Fakultät, Fakultät für Politologie,] Moskau 2018.
[2] http://rushistory.org/sergey-naryshkin/vystupleniya-s-e-naryshkina/sergej-naryshkin-pamyat-o-revolyutsii-perestala-razdelyat-nashikh-sograzhdan.html [16.02.2018]
[3] Vgl. https://msk.kprf.ru/2017/12/22/34970/ [16.02.2018]
[4] Vgl. den Konferenzbericht unter http://www.patriarchia.ru/db/print/4806909.html [16.02.2018]
[5] Ebenda.
[6] https://www.yabloko.ru/2017/03/16 [16.02.2018]
Jürgen Zarusky