Michael Homberg: Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870-1918 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 223), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 396 S., 45 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-35205-2, EUR 70,00
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In der historischen Forschung, insbesondere in der Journalismushistoriografie, haben in den zurückliegenden Jahren Studien eine Konjunktur erlebt, die dem Aufstieg und der Wirkung der Sensations- bzw. Skandalpresse in den Dekaden vor und nach 1900 verstärkt Aufmerksamkeit widmen. Hierbei stand insbesondere die "literarische Reportage" im Zentrum der Untersuchung, jene zwischen Journalismus und Literatur changierende Stilform also, die wie keine andere mit dem New Journalism und seinen Praktiken der investigativen Recherche und dem ihm immanenten Logiken der Enthüllung und Skandalisierung korrespondierte.
Die nun von Michael Homberg vorgelegte Studie, mit der der Verfasser 2015 an der Universität zu Köln promoviert wurde, ist in diesen neueren Trend der historischen Forschung einzureihen, geht jedoch über den Zuschnitt vieler früherer Arbeiten hinaus. Dies nicht nur insofern, als Homberg einen komparatistischen Zugang wählt und Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA als Fluchtpunkte dezidiert in seine Studie miteinbezieht, sondern auch, indem Homberg - hierbei weit über eine Geschichte des Genres in pressehistorischer Perspektive hinausgehend - den Akteuren (der Figur des Reporters, den Zeitungsverlegern und Redakteuren), den vorrangingen Orten ihrer Praxis (den Metropolen) sowie nicht zuletzt ihrer Bedeutung für die mediale Konstruktion metropolitaner Wirklichkeit in einer Reihe Fallstudien nachspürt.
Der Reporter als Augenzeuge, so die zentrale These der Untersuchung, habe sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als eine "Form narrativer Evidenzbildung und alternative Wahrheitsstrategie" (35) im Bereich des Journalismus etabliert. Der "Augenzeugen-Journalismus" des Reporters habe so zu einer Irritation jenes traditionellen "Informations-Journalismus" geführt, wie ihn die Nachrichtenagenturen und Korrespondenzbüros betrieben und der im Leitmedium der elektrischen Telegrafie, das ganz auf Anonymität und Faktizität abgestellt war, seinen Ausdruck fand.
Hombergs Untersuchung situiert sich weitgehend in der, in Anlehnung an eine Begriffsbildung von Reinhart Koselleck, Hochphase der "massenmedialen Sattelzeit", die in den Jahren zwischen 1880 und 1930 angesiedelt werden kann, wobei jedoch unklar bleibt, warum das journalismus- und mediengeschichtlich relativ unbedeutende Jahr 1918 das Ende des Untersuchungszeitraums der Studie markiert, wäre es doch gerade interessant gewesen zu untersuchen, wie sich der Aufstieg neuer Medien und Formen, wie der Radioreportage, auf den primär schrift- und bildbasierten Reportage-Journalismus ausgewirkt haben.
Die Studie gliedert sich in sechs Kapitel (Einleitung und Schlussbetrachtung sind in die Nummerierung eingeschlossen). Das zweite und dritte Kapitel gehen zunächst dem Aufstieg der Reportage und dem Aufkommen der Figur des Reporters nach und nehmen sodann die Professionalisierung des Nachrichtenwesens seit den 1850er-Jahren in vergleichender Perspektive in den Blick. Im Reportagestil hätten Literatur und Journalismus - hierbei den erzählten Mythen gleich - über die Diskursformen der Anekdotizität und Exemplarizität zueinander gefunden (319). Zugleich erscheine die Literarisierung des Journalismus mit ihren zahlreichen Strategien des Norm- bzw. Regelbruches als eine gewisse widerspenstige Gegentendenz zu der seit den Jahren um 1900 vorherrschenden Professionalisierung und der allgegenwärtigen Kommerzialisierung des Presswesens (105).
Im vierten und fünften Kapitel geht Homberg schließlich der "metropolitanen Nachrichtenkultur" und den "Globalnachrichten" nach, die beide je eigenen Nachrichtenlogiken gehorchten. Die Großstadt habe mediale Strategien von "Boulevardisierung" und Sensationalismus begünstigt, die in der auf Anschlusskommunikation abgestellten Reportage ihre erfolgreiche journalistische Form fand, ein Genre also, das, um mit Luhmann zu sprechen, den Eindruck erwecke, "als ob das gerade Vergangene noch Gegenwart sei, noch interessiere [...]". Der Reporter habe in seinen Texten nicht mehr so sehr, wie dies etwa vor 1870 noch der Fall gewesen war, als "anonymer Faktenregistrateur" fungiert, sondern war spätestens zur Jahrhundertwende zum aktiven Gestalter, zum "Nachrichtenmacher", avanciert, der lokale Ereignisse nicht mehr lediglich aufspürte, sondern eigene, mithin globale Medienereignisse kreierte, die den Stoff für seine Reportagen bildeten.
Homberg hat mit seiner Studie eine ungemein detailreiche und auf breiter wie mehrsprachiger Quellengrundlage fußende Genealogie der Reportage aus dem Geist der Metropole vorgelegt und damit nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Medien- und Journalismusgeschichte, sondern auch zur kulturwissenschaftlichen Metropolenforschung geleistet. Der akteurszentrierte Ansatz der Studie ist positiv hervorzuheben, gleichwohl bleibt fraglich, inwieweit der Begriff des Reporters, der mehr die Zuschreibung durch Zeitgenossen und das Selbstverständnis der Akteure reflektiert, als Analyseinstrument geeignet ist. Stattdessen wäre eher von einer heterogenen Gruppe von Akteuren auszugehen, die sich auf dem journalistischen Feld betätigten und die die Praxis des Reportageschreibens, nicht ihre berufliche Verortung, verband.
In Zeiten akademischer Überproduktion ist der formale Aufbau einer Studie wichtiger denn je. Er sollte sich an Lesefreundlichkeit und damit an den Erfordernissen der Zeitökonomie orientieren. Die Durchdringung der vorliegenden Arbeit wird dem Leser durch eine wenig systematische Gliederung des Stoffes sowie thesenarme, dafür aber allzu feuilletonistische Zwischenkapitelüberschriften erschwert. Nicht zuletzt hätten resümierende Abschnitte es ermöglicht, dem Argumentationsverlauf besser zu folgen, der leider häufig vom Detailreichtum des präsentierten Quellenmaterials überdeckt wird.
Robert Radu