Nikolas Dörr: Die Rote Gefahr. Der italienische Eurokommunismus als sicherheitspolitische Herausforderung für die USA und Westdeutschland 1969-1979 (= Zeithistorische Studien; Bd. 58), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 566 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-4125-0742-8, EUR 65,00
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Den Flanken der NATO kommt heute hohe Bedeutung zu, dies einerseits durch die Tatsache, dass an den Außengrenzen, hier vor allem im Südosten, Destabilisierung und Krieg herrschten, es andererseits im Unterschied zur Zeit bis 1989 eigentlich keinen Mittelabschnitt (Central Sector) mehr gibt. Ferner gab und gibt es gerade im Süden massive Konflikte innerhalb der Allianz, die eine nicht zu unterschätzende Belastung darstellen. Die Auswirkungen dieser Region und ihrer angrenzenden Krisengebiete sind in ganz Europa, nicht zuletzt in der Bundesrepublik, mehr als spürbar. Es ist daher umso wichtiger, dass auch in Deutschland verstärkt dazu geforscht wird, was leider immer noch zu wenig der Fall ist.
Nicolas Dörr hat sich nun Italien gewidmet, einem Thema, das gerade aus deutscher Perspektive zeitweise hohe Relevanz besaß, dies trotz der Tatsache, dass während der Blockkonfrontation bis 1989 vor allem Mitteleuropa und insbesondere den beiden deutschen Staaten der wesentliche Schwerpunkt zukam. Dörr analysiert die Rolle der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) als prominentem Teil des Eurokommunismus vor allem in den 1970er mit einem Ausblick in die 1980er.
Zunächst beleuchtet er die Anfänge - die Rolle Antonio Gramscis, einem der im Übrigen wichtigsten marxistischen Vordenker überhaupt, sowie die Geschichte der Partei im Rahmen des beginnenden Kalten Krieges. Neben den Gründen für den teils rasanten Aufstieg der KPI kommt dabei zum Ausdruck, dass die Partei nach einiger Zeit den von Moskau beanspruchten Führungsanspruch abzulehnen begann. Dörr zeigt die maßgeblichen innen- und außenpolitischen Gründe sehr gut auf, hier nicht auch zuletzt das Konzept des policentrismo, das der hierarchischen Parteidisziplin à la KPdSU diametral entgegenstand. Den Höhepunkt bildete dann der compromesso storico seit 1973, der in der Duldung einer konservativen Minderheitsregierung der italienischen Christdemokraten durch die KPI kulminierte. Damit verkörperte diese Partei geradezu den "Eurokommunismus", der bereits damals eine massive öffentliche und wissenschaftliche Diskussion auslöste. Dörr problematisiert den Begriff, u.a. indem er darauf hinweist, dass es "den" Eurokommunismus eigentlich gar nicht gab, da etwa die kommunistischen Parteien in Frankreich (PCF) und Portugal die moskautreue Linie nicht wirklich verließen.
Der Autor analysiert dann die Rolle der deutschen Sozialdemokraten, die schnell begriffen, dass der Eurokommunismus ein wichtiges Element innerhalb einer gesamteuropäischen Entspannungspolitik darstellte und Chancen zur Einwirkung auf die osteuropäischen Gesellschaften und Parteien bot. Besonders wichtig sind die Ausführungen zur Rolle der Eurokommunisten im internationalen Bereich, vor allem im sicherheitspolitischen Gefüge der NATO. Hierbei konzentriert sich Dörr komparatistisch auf die Perspektive der USA und der Bundesrepublik. Anders als die deutschen Sozialdemokraten, die sich trotz aller internen Probleme und Debatten um die Beziehungen zu kommunistischen Parteien der KPI annäherten, traf die KPI, wie kommunistische Parteien überhaupt, in den USA auf überaus starke Ablehnung, nicht nur durch die konservative Regierung Nixon, sondern auch die Regierung Carter, die trotz ihres liberalen Grundanstrichs den italienischen Kommunisten nicht wirklich traute. Dahinter standen neben den traditionellen Grundwerten kapitalistischer Prägung eine massive Angst vor Infiltration und ideologischer Wühlarbeit (Metapher des "Trojanischen Pferdes"). Außerdem erhoben vor allem Kissinger und der spätere Präsidentenberater Sonnenfeldt einen klaren Führungsanspruch im westlichen Lager, der im Wesentlichen von konfrontativen Perspektiven gekennzeichnet war - trotz der Tatsache, dass man sich in globalstrategischen Fragen (v.a. über Interkontinentalraketen, SALT) eben doch mit Moskau verständigte. Für die amerikanischen Führungspersönlichkeiten blieb klar: Die zentralen Entscheidungen wurden, wenn überhaupt, in Washington und Moskau, nicht in Bonn und Rom getroffen.
Neben dem Vergleich der grundsätzlichen politischen Befindlichkeiten und der politischen Kultur in Deutschland und Amerika ist vor allem die Beleuchtung der unterschiedlichen Ansätze zur Einflussnahme in Italien erhellend. Während die deutschen Sozialdemokraten mit Kontakten und Gesprächen den Weg zu den Kommunisten als zeitweilige politische Aufsteiger suchten, benutzten die Amerikaner ihre Botschaft bzw. die Konsulate und viel Geld, teilweise auch zur Unterstützung von Parteien am rechten Rand. Dies und die Aufdeckung von Putschplänen mit amerikanischer Unterstützung führten in Italien zu einer deutlich kritischen Haltung gegenüber den USA. Aus den Befreiern des Zweiten Weltkrieges wurden in der öffentlichen Wahrnehmung imperialistische Ränkeschmiede und Ausbeuter.
Dörr zeichnet schließlich den Weg der KPI in sozialdemokratische Gefilde nach, die dann in den 1980er Jahren und nach 1990 endgültig zum Tragen kamen. Die Gründe hierfür waren vielfältig. Die Zusammenarbeit mit den Christdemokraten belastete das innere Gefüge der KPI schwer, außerdem konnte sie in den Parlamentswahlen von 1979 den erdrutschartigen Erfolg von 1976 nicht wiederholen. Auch die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament kurz darauf verlief enttäuschend. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan sowie der NATO-Doppelbeschluss setzten die Partei, die schon zuvor die NATO grundsätzlich nicht mehr infrage gestellt hatte, weiter unter Druck. Dies nicht zuletzt auch durch den nunmehr fast nicht mehr zu kaschierenden Bruch mit der PCF. Offenbar war der Zenit einer eurokommunistischen Bewegung, die immer auch eine Gratwanderung dargestellt hatte, überschritten.
Die Arbeit von Dörr überzeugt auch methodisch. Sie ist komparatistisch und transnational angelegt, bettet das Thema in die zentralen Rahmenbedingungen ein (Entspannungs- und Ostpolitik sowie Handlungsdynamiken und Konflikte in der NATO). Die militärgeschichtliche Seite findet dabei in der strategischen Bedeutung Italiens als Bindeglied südlich der Alpen und wichtiger strategischer Stützpunkt sowie Stabilitätsfaktor im Mittelmeer Berücksichtigung. Wichtig ist die gelungene Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik, ein zentraler methodischer Punkt moderner internationaler Geschichte (multilateral, multiperspektivisch, multiarchivalisch). Schließlich nutzt der Autor auch das Instrumentarium der Diskursanalyse, ohne dieser eine beherrschende Stellung zukommen zu lassen. Insbesondere hinterfragt er das Phänomen "Eurokommunismus" und weist völlig richtig darauf hin, dass dieser weniger als konkretes politisches Phänomen von Bedeutung war, sondern vielmehr als diskursives Element und Resonanzboden für alle bedeutenden politischen Lager. Insofern spielte er für die Entspannungspolitik eine genauso große Rolle wie für das US-amerikanische Verständnis mit vor allem Kissingers Misstrauen gegen die deutsche Ostpolitik.
Insgesamt wird das Thema sauber und überzeugend abgearbeitet. Das Werk ist eine wichtige Bereicherung der Forschungsliteratur zur NATO, zu Italien und zur zweiten Hälfte des Kalten Krieges überhaupt. Indes liefert die Arbeit keine Antwort auf die drängenden Fragen hinsichtlich der entscheidenden Faktoren in Bezug auf das Ende des Kalten Krieges, was letztlich so von einer Monografie mit dieser Themenstellung auch nicht zu erwarten war. Der Mehrwert liegt in der tiefen Analyse der italienischen Politik im Internationalen anhand der Rahmenbedingungen, die dadurch auch klarer gefasst und mit neuen Ergebnissen beleuchtet werden.
Generell besteht immer die Gefahr, dass Historiker und Fachleute zur Entspannungspolitik gerade europäischer Provenienz die Dynamiken der Détente, etwa des KSZE-Prozesses, überschätzen, teilweise auch auf historiografischen Fachkonferenzen den "Geist von Helsinki" pflegen. Dörr ist sich der methodischen Probleme bewusst und weist auf entsprechende Defizite und Desiderate hin. Es bleibt für den Betrachter etwa die Frage: Wie "anarchisch" war der Eurokommunismus im Rahmen der Entspannung wirklich? Inwieweit hat er zur Überwindung der bipolaren Konfrontation beigetragen?
Unterm Strich ist die Arbeit nicht nur wegen der genuinen Forschungsleistung von großem Wert, sondern auch wegen der Perspektiven zur Zeit nach 1990, gerade auch bezüglich des Umgangs mit Russland und den teils erheblichen Spannungen zwischen Europäern und Amerikanern. Dörrs Arbeit liefert hier wichtige historisch-politische Orientierung, auch wenn sie keine Empfehlungen für die heutige Zukunft geben kann und will. Es bleibt indes auch hier die Frage: Kann das Verhältnis NATO - Russland wirklich durch Entspannungspolitik 2.0 geregelt werden?
Bernd Lemke