Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hgg.): Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft (= Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft; Bd. 10), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017, 354 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11682-4, EUR 66,00
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Die Herausgeber bezeichnen in ihrer Einleitung die Frage nach der Haltung zur Einheit als die Gretchenfrage des wiedervereinigten Deutschland. Auch wenn die "neuen" Bundesländer von den Veränderungen nach 1990 weit stärker und direkter betroffen gewesen seien als die "alten" Bundesländer, so zeige sich an Debatten wie derjenigen um den "Soli", dass Wiedervereinigung und Aufbau Ost auch im Westen Konfliktpotential geschaffen hätten. Die Herausgeber und Autoren des Bandes möchten in ihren Beiträgen jedoch explizit nicht nach Erfolg und Misserfolg fragen. Sie versuchen diese Klippe über zwei analytische Begriffe zu umschiffen: Vereinigungsgesellschaft und Arena.
Der erste Begriff soll die Aufmerksamkeit auf die Offenheit und Dynamik der Entwicklungen der 1990er Jahre lenken. Die Autoren möchten damit eine "multiperspektivische historische Vermessung des wiedervereinten Deutschlands" anstoßen (15), deren Fehlen sie konstatieren. Die Entwicklungen der 1990er Jahre seien nicht "alternativlos" gewesen, und es sei eine Aufgabe von Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern, sich an diesen Debatten zu beteiligen. Das "Arena-Modell" verstehen die Autoren als Metapher für die relevantesten gesellschaftlichen Diskurse der 1990er Jahre. Dies ermöglicht es, so die Herausgeber, die zeitgenössischen "Orientierungs-, Anpassungs- und Suchbewegungen sowohl ost- als auch westdeutscher Akteure" ernst zu nehmen und bei gleichzeitiger Distanzierung zum Gegenstand auf verschiedenen Feldern (Arenen) zu analysieren" (25).
Der Sammelband ist in vier Abschnitte gegliedert: "Identitäten und kollektive Selbstbilder", "Wirtschaft, Politik und Gesellschaft", "Hinterlassenschaften und Aufarbeitung", "Soziale und individuelle Ordnungsentwürfe". Die einzelnen Beiträge decken eine große Themenvielfalt ab. Auffällig - aber in Anbetracht der Einleitung konsequent - ist die Abwesenheit der klassischen Politikgeschichte. Exemplarisch soll je ein Aufsatz aus jedem Abschnitt vorgestellt werden.
Ralph Jessen analysiert in seinem Beitrag "Das Volk von 1989 als Praxis, Projektion und Erinnerungsort" den Begriff des Volkes und versucht, dessen politische Instrumentalisierung zu dekonstruieren. Der Autor beschreibt den mehrstufigen Wandel der Semantik des Volksbegriffs in den Protesten vom Herbst 1989 von "Wir sind das Volk" als kollektive Protestidentität zu "Wir sind ein Volk" mit einer stark nationalen Konnotation. Er zieht den naheliegenden Vergleich zwischen der Demonstrationsbewegung von 1989 mit ihrem Schwerpunkt in Sachsen und Pegida, deren Organisationszentrum sich ebenfalls in Sachsen befindet. Der Autor betont hierbei Verbindendes trotz der scharfen Kritik an Pegida, die auch von ehemaligen Aktivisten der Demonstrationen von 1989 geäußert wurde. Bereits im Herbst 1989 sei, so Jessen, der "exklusiv moralisierende" Volksbegriff präsent gewesen, wie er bei den Hartz IV-Protesten 2004 und Pegida 2014 wieder in Erscheinung trat. Sehr "unrankianisch" wirken die Werturteile des Autors über die ostdeutsche Intellektuellenszene im Allgemeinen und Stefan Heym im Besonderen, so gerechtfertigt die Kritik im Einzelfall auch erscheinen mag.
Marcus Böick befasst sich in "Vom Werden und Vergehen einer (post)revolutionären Arena. Die Treuhandanstalt in der Umbruchs- und Übergangsgesellschaft" mit der wahrscheinlich symbolträchtigsten Institution der Transformation der 1990er Jahre in Ostdeutschland. Er begreift die Treuhandanstalt als eine Organisation, in der radikalisierende und normalisierende Kräfte über den weiteren Fortgang des revolutionären Wandels stritten. In solchen Institutionalisierungen verdichtet sich, so der Autor, revolutionäre Dynamik und werde in Strukturen eingebettet, die den Wandel langfristig absicherten. Böick greift das in der Einleitung formulierte Arena-Konzept explizit auf und versucht, es für eine Analyse der Treuhandanstalt fruchtbar zu machen. Er analysiert, wie die Treuhandanstalt ab Spätsommer 1990, also erst mehrere Monate nach ihrer Gründung, schlagartig in den Mittelpunkt der medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückte und somit zur Arena par excellence der Transformation wurde. Eine Abwendung von der Frage nach Erfolg oder Misserfolg der Treuhand öffne den Blick für die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse der 1990er Jahre. Die Treuhand mit ihrer zentralen Rolle zwischen Bundesrepublik und ehemaliger DDR sowie zwischen Staat und Markt sei für eine solche Analyse geradezu prädestiniert.
Eine Institution, die in der historischen Forschung bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfährt, bildet die Bundeswehr. Dies gilt umso mehr für die Gruppe der ehemaligen NVA-Angehörigen, von denen der Großteil nach 1990 nicht in die Bundeswehr übernommen wurde. Nina Leonhard widmet sich in "Einschluss durch Ausschluss. NVA-Offiziere und die Gedächtnispolitik der Bundeswehr im Vereinigungsprozess" dieser Gruppe. Dass die Bundeswehr heute als gesamtdeutsche Institution erscheine, liege, so die These der Autorin, primär an der Integrationsleistung der übernommenen NVA-Angehörigen in Verbindung mit einer damnatio memoriae der NVA, die von der Bundeswehr nicht als eine ihrer Vorläuferorganisationen betrachtet werde. Sie verdeutlicht die verschiedenen Mechanismen der Abwertung bzw. Degradierung, die ehemalige NVA-Angehörige durchlaufen mussten, angefangen von einer direkten Degradierung im militärischen Rang über die Abwertung der bisherigen Arbeitsbiographie und Ausbildung, einer unterschiedlichen Entlohnung bis zum Jahr 2011 bis hin zur Selbstbeschreibung der Bundeswehr als einzig legitimer deutscher Armee nach 1945. Auch wenn die Mehrheit der Ostdeutschen nach 1990 eine Art von "Degradierung" der eigenen Biographie erfahren hat, dürfte es nur wenige Gruppen geben, die hiervon stärker betroffen waren als die früheren NVA-Angehörigen, ohne im Gegensatz zum ehemaligen Parteiapparat und zur Staatssicherheit in den berechtigten Fokus von Justiz und Öffentlichkeit geraten zu sein.
Die Homosexuellenbewegung der DDR bildet ein interessantes Forschungsthema, da sich an ihr zeigen lässt, dass die 1990er Jahre nicht nur von einem einseitigen West-Ost-Transfer bestimmt waren. Teresa Tammer beschäftigt sich hiermit in ihrem Aufsatz "Coming Out in die Deutsche Einheit. Vom Aufbruch und Abschied der DDR-Schwulenbewegung". Eine narrative Klammer bildet der DDR-Spielfilm "Coming out", der bezeichnenderweise am 9. November 1989 Premiere feierte. Oberflächlich betrachtet symbolisiere der Film Höhepunkt und Ende der DDR-Schwulenbewegung. Eine genaue Analyse widerlege aber diesen Eindruck. Ein Beispiel für das Fortleben der Traditionen der Schwulenbewegung in der DDR stelle der im Februar 1990 gegründete "Schwulenverband der DDR" (SVD) dar. Dieser avancierte rasch unter dem Namen "Lesben- und Schwulenverband" (LSVD) zur größten Bürgerrechtsorganisation für Homosexuelle in Deutschland.
Es bildet eine Gemeinsamkeit aller Beiträge, dass sie überwiegend auf publizierten Quellen und Interviews basieren. Dies deckt sich mit dem im "Arena-Modell" verfolgten diskursiven Ansatz. Auch wenn sich nicht jeder Beitrag explizit auf die in der Einleitung genannten Konzepte bezieht, weisen die einzelnen Abschnitte des Sammelbandes eine hohe Kongruenz auf. In den nächsten Jahren ist jedoch eine qualitative "Transformation" der Forschung zu erwarten aufgrund der anstehenden "Archivrevolution" und des hohen Alters der noch in der alten Bundesrepublik und der DDR sozialisierten Entscheidungsträger der 1990er Jahre. Die Akten des Bundesarchivs werden in den nächsten Jahren schrittweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die Landesarchive stehen in der Regel bereits offen. Dies verspricht neue Forschungsimpulse.
Max Trecker