Rezension über:

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2017, 1336 S., 32 Farb-, 83 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-69876-7, EUR 44,00
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Rezension von:
Götz Rüdiger Tewes
Historisches Seminar, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Götz Rüdiger Tewes: Rezension von: Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München: C.H.Beck 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/31081.html


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Bernd Roeck: Der Morgen der Welt

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Bernd Roeck hat ein grandioses Werk geschaffen. Über eine Geschichte der europäischen Renaissance geht es, indem Roeck nicht weniger als eine Erklärung der "Weltstellung Europas" (1149) in Angriff nimmt, weit hinaus - sowohl inhaltlich als auch zeitlich oder geografisch. Das Ergebnis ist eine ungemein gelehrte und vor allem konsequent komparativ angelegte Universalgeschichte Europas von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit. Denn nur durch den globalen Vergleich gewinnen die Spezifika Latein-Europas Konturen und ihr Proprium. Der Rezensent gesteht, dass er hier die fesselndsten und erkenntnisreichsten Leseerlebnisse hatte. Warum gab es, trotz teilweise analoger oder gleicher Voraussetzungen, bestimmte kulturelle, technische oder wissenschaftliche Entwicklungen im lateinischen Europa, in bedeutenden südamerikanischen oder insbesondere asiatischen Kulturen hingegen nicht? Oder konkreter gefragt: Wie konnte Europa in bzw. seit der Renaissance das bis zum 12. Jahrhundert kulturell weit überlegene China überholen? Eine zentrale Antwort Roecks lautet: durch eine singuläre konstruktiv-kritische Antikenrezeption.

Gegen mannigfache Relativierungsversuche der Forschung, gleichwohl ohne eine Verengung auf die klassische Renaissance-Konzeption in der Tradition Jakob Burckhardts bleibt auch für Roeck das "Gespräch mit der Antike" (17) für die Kultur der Renaissance zentral. Ohne die kritische und nur deswegen fruchtbare Rezeption der antiken griechischen und römischen sowie arabischen Philosophie und Wissenschaft im mittelalterlichen Latein-Europa hätte es nach ihm eine andere Weltgeschichte gegeben. Dieser Bezug wird nun jedoch gleichsam eingebettet in sechs weitere Säulen der Moderne. Als solche arbeitet Roeck Geografie und Klima heraus, staatliche Vielfalt und Konkurrenz, die europäische Stadt und Sozialstruktur, die Einhegung der Religion bzw. Priesterschaft, den Buchdruck sowie die Existenz sehr langer Entwicklungszeiträume bzw. -möglichkeiten, die methodisch eben auch eine, wie Roeck es nennt, gleichsam archäologische, tiefe Geschichtsschreibung verlangen. Und so gehört zu den ersten Bedingungen der Möglichkeit die Erfindung der Alphabet-Schrift im fruchtbaren Halbmond, also der vorderasiatischen Region vom östlichen Mittelmeer bis zum Iran. Die auf relativ wenige Zeichen reduzierte, leicht erlern- und anwendbare griechische und lateinische Buchstabenschrift ist in der Tat eine "Medienrevolution" (36) gewesen, ein oft vernachlässigter Baustein von größter Bedeutung für die Entfaltung Europas. In Hieroglyphen wäre die aristotelische Logik kaum zu schreiben - und wohl auch nicht zu denken gewesen. Und so nimmt diese Universalgeschichte ihren langen, tief schürfenden Lauf, wendet sich der griechischen Polis als einem zentralen Ausgangspunkt zu, der Philosophie, Wissenschaft und Kultur Griechenlands, dann Roms, des Islams - ohne je zu verkennen, dass große Kulturen niemals autochthone oder rein nationale Wurzeln haben, sondern immer auch von benachbarten profitierten (wie z.B. die Griechen auf dem Gebiet der Mathematik oder bildenden Kunst von der Ägyptens). Die karolingische Renaissance erhält als eine erste Wiedergeburt der Antike den ihr gebührenden Platz, nach einem vergleichenden Blick auf Indien, Japan und China sodann im Kontext des europäischen Hochmittelalters die für Roeck grundlegende, in der Forschung oft thematisierte, hier nun aber kausal-strukturell eingebundene Renaissance des 12. Jahrhunderts. Sie gehe nahezu bruchlos in die "große Renaissance" über.

Da Roeck keine Variation klassisch gewordener Renaissance-Darstellungen vorlegen wollte, wird diese eigentliche, bei ihm vornehmlich im 14. Jahrhundert beginnende Kernzeit der europäischen Renaissance mit einer Fokussierung auf ihre wichtigsten Protagonisten vergleichsweise recht kurz dargestellt. Italien freilich, wo die griechisch-römische Antike lebendiger blieb als im restlichen Europa, steht ganz berechtigt im Zentrum. "Im Chaos stieg es zum geistig regsamsten, künstlerisch kreativsten Land der Welt auf" (343). Grundlage dafür waren kommunale Freiheit und staatliche Autonomie, nach Roeck der Preis für die Kriege und Parteienkämpfe nach dem Ende der Stauferherrschaft. Natürlich kann in einem Buch mit dieser Konzeption und Intention nicht jedes Land, jedes Problemfeld die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Aber gerade aufgrund des weiten Kontextes wäre es doch reizvoll gewesen, etwa die großartige und vielfältige (aber kaum bekannte) Renaissancekultur Polens, die auf kaum zwei Seiten kurz erörtert wird, exemplarisch als Beleg für den Realität gewordenen europäischen Möglichkeitsraum vorzustellen. Wie das oberitalienische Sabbioneta bildet hier z.B. das weit im Osten liegende, von einem Paduaner Architekten im späteren 16. Jahrhundert neu konzipierte und realisierte Zamość eine geradezu klassische Idealstadt, an der ein Leon Battista Alberti seine helle Freude gehabt hätte. Wenn Roeck mit Recht die (leider nicht nur in der älteren Forschung propagierte) Behauptung, "die Renaissance sei als Aufstand gegen ein verkrustetes scholastisches System zu begreifen", auf dem "Schuttplatz der Ideengeschichte" (342f.) entsorgen möchte, wünschte man sich doch eine konzise Thematisierung auch dieses für den europäischen Humanismus, für die Geistesgeschichte Latein-Europas fundamentalen Sachverhaltes.

Roecks Perspektive ist die des Adlers, der aus großer Höhe weite Räume überblickt und durch den globalen Vergleich raumtypische Zusammenhänge erkennt, die in der Tat frappierend erscheinen. Europas viel geschmähte Klein- und Vielstaaterei schuf eben nicht nur Konkurrenz und erzwang schöpferischen Erfindungsreichtum, sie vermied auch die Entstehung eines autoritär und dogmatisch regierten Großreiches und ermöglichte deshalb den klugen Köpfen ein entsprechend großes Angebot an beruflichen Alternativen. Antike Wissenskultur konnte so relativ unbeeinträchtigt produktiv weiterentwickelt werden. Das universale Latein und das Papier trugen ebenso dazu bei, dass technische Quantensprünge wie die Entwicklung von Kristallglas und Brille in Italien entstanden oder gut anderthalb Jahrhunderte später in Deutschland der Buchdruck mit beweglichen Lettern, der Wissen für breite Massen verfügbar machte. Dank des kritischen, neugierigen und offenen europäischen Geistes geriet dieser Wissensschatz nie in Gefahr, dogmatisch einzementiert zu werden. Wie einzigartig dieser Prozess war, wird durch den Vergleich etwa mit China deutlich, wo die Voraussetzungen während des Hochmittelalters ungleich günstiger waren als in Latein-Europa, wo sich jedoch aufgrund des Fehlens jener genannten strukturellen Spezifika kein Produktivraum formte. Signifikant ist hier der Hinweis auf Dietrich von Freiberg, dessen wegweisender optischer Traktat zur Physik des Regenbogens um 1300 gleichsam den Schnittpunkt der fallenden chinesischen und der nun unaufhaltsam steigenden europäischen Kurve bildet! Diese Untersuchung stehe "symbolisch für eine wissenschaftsgeschichtliche Zeitenwende" (342).

Ungemein spannend und bereichernd ist es, diese und unzählige weitere Erkenntnisse in die Gegenwart zu übertragen. Wo werden sich welche Voraussetzungen geändert haben, sollte China demnächst Europa in einer asiatischen Renaissance ökonomisch und technisch wieder überholen? Roecks gut lesbares Werk bildet eine reiche, bereichernde Schatzgrube, in die man - so ergeht es jedenfalls diesem Rezensenten - immer wieder eintauchen möchte.

Götz Rüdiger Tewes