Rezension über:

Matthias Bruhn / Gerhard Scholtz (Hgg.): Der vergleichende Blick. Formanalyse in Natur- und Kulturwissenschaften, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2017, 245 S., 44 Farb-, 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01578-9, EUR 29,90
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Rezension von:
Britta Hochkirchen
Historische Bildwissenschaft-Kunstgeschichte, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Jessica Petraccaro-Goertsches
Empfohlene Zitierweise:
Britta Hochkirchen: Rezension von: Matthias Bruhn / Gerhard Scholtz (Hgg.): Der vergleichende Blick. Formanalyse in Natur- und Kulturwissenschaften, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/31183.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Matthias Bruhn / Gerhard Scholtz (Hgg.): Der vergleichende Blick

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Das Vergleichen ist nicht nur eine alltägliche Praxis, sondern bestimmt darüber hinaus als Methode die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Erkenntnis stiftende Wirkmacht des Vergleichens ist daher in den letzten Jahren selbst zum Gegenstand der disziplinären und interdisziplinären Forschung geworden. [1] Neben dem sprachlichen Vergleich ist es das vergleichende Sehen, das die Praxis im Alltag wie in der Wissenschaft prägt. Die Untersuchungen zum vergleichenden Sehen haben mit der Rede vom "Bild im Plural" und vom "Hyperimage" enormen Aufschwung erfahren. [2] Im Zentrum der Studien zum vergleichenden Sehen stehen häufig einerseits semiotisch motivierte Analysen darüber, welche Deutungen durch das Vergleichen von zwei oder mehr Bildern provoziert werden. Andererseits werden die wissensproduzierenden und damit Macht involvierenden Aspekte des Vergleichens von Bildern und des vergleichenden Sehens auf der Wahrnehmungsseite herausgestellt. [3] Dabei blieben die bisherigen Untersuchungen zum vergleichenden Sehen häufig den kunstwissenschaftlichen Gegenständen sowie der kunsthistorischen bzw. bildwissenschaftlichen Perspektive verpflichtet. Die Untersuchung der Methode des vergleichenden Sehens innerhalb der Eigenlogik und Geschichte der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ist ein Desiderat, das Matthias Bruhn und Gerhard Scholtz zum Ausgangspunkt des Sammelbandes genommen haben.

Der Sammelband enthält Beiträge der 2015 am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten Tagung "Form und Ordnung". Die Veranstaltung nahm dabei das hundertjährige Jubiläum von Heinrich Wölfflins "Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen" zum Anlass. Damit war eine kunstgeschichtliche Methode, die auf dem Vergleichen beruht, zum Anhaltspunkt bestimmt (vgl. dazu den Beitrag von Hans Christian Hönes). Doch mit der Beobachtung, dass die Methode des vergleichenden Blicks Grundlage vieler wissenschaftlicher Disziplinen ist - und zwar, das wird im Editorial sehr betont, "sowohl in den Lebens- und Naturwissenschaften wie in den Kultur- und Geisteswissenschaften" (8) - stand dann für die Tagung wie auch den Sammelband die Frage im Zentrum, "ob es möglich wäre, eine fächerübergreifende Methodik oder gar Theorie des Vergleichens zu bestimmen" (8). Im Sinne der heutigen Kritik einer immerwährenden, meist oberflächlichen Rede von Trans- bzw. Interdisziplinarität, tun die Herausgeber und Beiträgerinnen und Beiträger dann aber gut daran, den "Limitierungen einer [...] Grenzüberschreitung" (8) zwischen den Disziplinen und den damit zusammenhängenden "Kategoriebrüche[n]" (8) nachspüren zu wollen. So versammelt der Band zehn Beiträge, die aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen, nämlich aus Kunstgeschichte, Biologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, den vergleichenden Blick als Methode und deren sprachlicher Übersetzung untersuchen: und zwar sowohl im Hinblick auf die Verortung in der (Methoden-)Geschichte des jeweiligen Faches als auch auf den systematischen Stellenwert innerhalb des disziplinären Feldes. Dabei spielen auch die aktuellen Anwendungen des vergleichenden Blicks und ihre Relevanz eine wichtige Rolle, wenn es etwa um Klimawandel (Beitrag von Birgit Schneider), pathologische Bildbefunde (Beitrag von Anna L. Roethe und Matthias Planitzer) oder (polizeiliche) Bildidentifikation (Beiträge von Roland Meyer und Hilja Hoevenberg) geht. Im Rahmen der Untersuchung der Anwendung der disziplinären Methoden in spezifischen Berufsbereichen kommen entsprechende Fachleute aus den Berufsfeldern als Beitragende zu Wort. Auf diese Weise führt der Sammelband auf eindrückliche Weise vor Augen, was mehr und mehr von den Geisteswissenschaften eingefordert wird: Das Aufzeigen der Relevanz ihrer Methoden und die Reflexion ihrer Anwendung für die gesellschaftliche Praxis.

Mit der Konzentration auf den vergleichenden Blick als Methode gelingt ein erhellender Vergleich auf der Ebene der disziplinären Perspektivierungen. Idealtypisch sind hier die drei Beiträge zur Bildidentifikation im Rahmen polizeilicher Personenerkennung zu nennen. Grundlegend ist dabei stets die Annahme, dass die Praxis des Identifizierens auf den Methoden des vergleichenden Blicks beruhe, die sich aber durch die Zeiten und die jeweiligen technischen Möglichkeiten hinweg verändern. Die Fotohistorikerin Franziska Kunze befragt die Routinisierung und Standardisierung in der polizeilichen Fotopraxis ausgehend von Alphonse Bertillons anthropometrischen Prinzips der "sprechenden Porträts" bis zu Francis Galtons Daktyloskopie und untersucht sowohl die fotografischen Einstellungen als auch das Arrangement der Fotografien - etwa zusammen mit dem Fingerabdruck. Mit einer stärker systematisch ausgerichteten Perspektive auf den vergleichenden Blick in der Bildidentifikation stellt der Medientheoretiker Roland Meyer (ausgehend von Peter Geimers Aufsatz zum vergleichenden Sehen [4]) eine (Bild-)Kritik der Ähnlichkeit vor, die ihn bis zur heutigen Daktyloskopie führt. Dabei kommt er zur wichtigen These, dass der Bildvergleich vor allem durch die Unähnlichkeit motiviert ist (70) und sich daraus eine "Kette von Vergleichsoperationen" (74) entwickelt. Der Sachverständige für Bildidentifikation Hilja Hoevenberg konzediert dem Medium Fotografie in Hinblick auf den vergleichenden Blick eine konstruierende Qualität.

Grundlegend für die meisten versammelten Beiträge - und hier treffen sich paradigmatisch die Kunstgeschichte à la Wölfflin und die Lehre von der Morphologie in der Biologie - ist der Begriff der Form. In einem grundlegenden und die Frage des vergleichenden Blicks klug auffächernden Beitrag stellt Matthias Bruhn den Begriff der Form auch als "Schlüssel oder Gelenk" (16) vor: "Form liegt dem Vergleich nicht nur zugrunde, sondern geht als perzeptive Einheit, als Merkmal oder Detailbeobachtung, auch aus demselben hervor" (16). Im Folgenden widmen sich dann auch einige Beiträge des Sammelbandes der Untersuchung des vergleichenden Blicks im Zusammenhang mit morphologischen Entwicklungszusammenhängen (Beiträge von Thomas Stach sowie von Marco Brusotti und Sabine Mainberger).

Was jedoch bei der Zuspitzung des vergleichenden Blicks als eine Motivation der "Formanalyse" (so ja auch der Untertitel des Bandes) auf der Strecke bleibt, sind andere Merkmale oder Kategorien, die jenseits einer Formanalyse durch den Vergleich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gehoben werden können, die aber in den Beiträgen nur implizit anklingen: Farbe, Ikonografie, Gattung; das Herausstellen all dieser (und anderer) Aspekte kann durch den vergleichenden Blick provoziert werden. Kaum Beachtung finden darüber hinaus in dem Sammelband Prozesse und Praktiken, die den vergleichenden Blick erst möglich machen (Bruhn deutet diese nur kurz an, vgl. 33; vgl. auch den Beitrag von Birgit Schneider, 128). Denn dem vergleichenden Blick und der Formanalyse gehen Zurichtungen voraus, die nicht 'unschuldig' sind. [5]

Der Band bietet ein überzeugendes Tableau an disziplinären Perspektiven in der Spanne von Kultur- und Naturwissenschaften auf den vergleichenden Blick als Formanalyse. Eine fächerübergreifende Methode des Vergleichens wird dabei nicht ersichtlich, stattdessen aber die unterschiedlichen disziplinären Einordnungen und methodischen Umgangsweisen mit dem vergleichenden Blick, historisch wie systematisch. Dabei werden disziplinäre Grenzen - auch im bildtheoretischen Wissen um das Bild - nur allzu deutlich, was die interdisziplinäre Zusammenarbeit gerade in der Differenz umso produktiver und relevanter werden lässt. Vergleichen muss der Leser die disziplinären Blicke allerdings zumeist selber, dieses Unterfangen ist aber höchst lohnenswert.


Anmerkungen:

[1] Angelika Epple / Walter Erhart (Hgg.): Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt am Main 2015. Seit Januar 2017 hat an der Universität Bielefeld der SFB 1288 "Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern" die Arbeit aufgenommen. Auf Basis praxistheoretischer Ansätze wird das Vergleichen aus literaturwissenschaftlicher, geschichtswissenschaftlicher, kunstgeschichtlicher und soziologischer Perspektive erforscht. Die Verfasserin der Rezension leitet gemeinsam mit Johannes Grave das Teilprojekt "Bild-Vergleiche. Formen, Funktionen und Grenzen des Vergleichens von Bildern".

[2] Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München 2013; Gerd Blum / Steffen Bogen / David Ganz / Marius Rimmele (Hgg.): Pendant plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012; David Ganz / Felix Thürlemann (Hgg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin 2010.

[3] Lena Bader / Martin Gaier / Falk Wolf (Hgg.): Vergleichendes Sehen, München 2010.

[4] Peter Geimer: Vergleichendes Sehen - Gleichheit aus Versehen. Konjunktur und Grenzen eines kunsthistorischen Paradigmas, in: Lena Bader / Martin Gaier / Falk Wolf (Hgg.): Vergleichendes Sehen, München 2010, 45-69.

[5] Vgl. dazu Johannes Grave: Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen, in: Angelika Epple / Walter Erhart (Hgg.): Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt am Main 2015, 135-159.

Britta Hochkirchen