Rezension über:

Bernhard Hollick: Anonymi Epternacensis Glossae in logicam. Studie mit kritischer Edition der Texte (= Rarissima medievalia. Opera latina; Vol. V), Münster: Aschendorff 2015, 506 S., ISBN 978-3-402-10435-4, EUR 66,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Cinzia Grifoni
Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Cinzia Grifoni: Rezension von: Bernhard Hollick: Anonymi Epternacensis Glossae in logicam. Studie mit kritischer Edition der Texte, Münster: Aschendorff 2015, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 7/8 [15.07.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/07/27247.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Bernhard Hollick: Anonymi Epternacensis Glossae in logicam

Textgröße: A A A

Der vorliegende Band enthält die erste kritische Edition der anonymen Glossensammlung zu Priscians Institutiones Grammaticae, Porphyrios' Isagoge und Aristoteles' Kategorienschrift, die in der Handschrift Luxembourg, Bibliothèque Nationale de Luxembourg, MS 9 (fortan MS 9) überliefert ist, sowie die erste tiefgehende Analyse ihrer Inhalte.

In der Einleitung (13-20) schildert Hollick Aufbau und Ziel seiner Studie. Er beschreibt seine Arbeitsmethoden sowie die Schwierigkeiten, die die Auseinandersetzung mit Glossen mit sich bringt. Die Beschreibung der Struktur und Inhalte der Glossensammlung beschränkt sich hier auf wenige relevante Aspekte (eine genauere Darstellung ist erst im Kapitel 3 zu finden). MS 9 wird als ein "philosophisches Notizbuch" (16) präsentiert, welches nur Bruchstücke der ausgelegten Texte in Form von Lemmata enthält. Die Glossen bieten eine Interpretation an, die vorwiegend aus einer Paraphrase des kommentierten Textes in Form von Syllogismen besteht. Zusammen betrachtet enthalten sie keine "vollständige Theorie, sondern nur 'philosophische Brocken'"(18). Um ihre theoretische Kohärenz zu rekonstruieren, hat Hollick sowohl die Quellen der Glossen als auch zeitgenössische Traktate ähnlichen Inhalts bemüht. Somit enthält seine Abhandlung die erste detaillierte Beschreibung nicht nur des philosophischen Gehalts des Kommentars, sondern auch des kulturellen Kontextes, in dem er entstanden ist. Hollick zufolge wurden die Glossen wohl im Laufe des 12. Jahrhunderts im Echternacher Willibrordkloster verfasst. Hier war ein unbekannter Gelehrter bestrebt, Erklärungen zu den jeweiligen Textsegmenten eigenständig zu formulieren, wenngleich er meistens auf die Lehre des Boethius zurückgriff.

Im Kapitel 1 (21-35) wird der Forschungsstand zur Handschriften- und Glossenproduktion aus der Abtei Echternach sowie zur früh- und hochmittelalterlichen Beschäftigung mit Logik dargelegt. Das zweite Kapitel (37-58) fasst die Entwicklung der logischen Studien bis zum 12. Jahrhundert zusammen. Kapitel 3 (59-82) enthält präzisere Informationen über die kodikologischen, paläographischen und inhaltlichen Eigenschaften der Luxemburger Handschrift. Es handelt sich um einen codex unicus, der von einem einzigen Kopisten geschrieben wurde. Dieser sei, so Hollick, mit dem Verfasser des gesamten Glossenkorpus zu identifizieren. Die große Anzahl an Abkürzungen, in einigen Fällen die mangelnde Strukturierung der Inhalte und die eigenhändigen Korrekturen, Revisionen und Ergänzungen seitens des Schreibers bewegen Hollick dazu, die Handschrift als "privates Vademecum" einzustufen (61), in welchem der Autor Notizen zum eigenen Gebrauch festhielt. Eine externe Leserschaft wird hier ausgeschlossen, obwohl sie später im Buch doch postuliert wird (206: "Der Anonymus ... konnte dieselbe Offenheit auch von seinen Lesern erwarten"). Aus der fünffachen Erwähnung eines "magister Thietbold", den er mit Theobald von Étampes identifiziert, schließt Hollick, dass der Schreiber einer von dessen Schülern in Oxford war. Die Glossen stellten daher zum Teil die schriftliche Fixierung von Theobalds Unterricht dar. Nach diesen plausiblen, wenn auch spekulativen Ausführungen unterstreicht Hollick die Einzigartigkeit der Handschrift im Echternacher Kontext, mit Bezug sowohl auf die Kombination der kommentierten Texte als auch auf die Inhalte der Glossen.

Einer gründlichen Untersuchung der Interpretationstechnik des Glossators wird das umfangreiche Kapitel 4 gewidmet (83-149). Hollick zeigt, wie die Glossen von MS 9 in den meisten Fällen nicht auf die wörtliche Erklärung, sondern auf die Bewertung der logischen Struktur der ausgelegten Passagen abzielen. Sie spiegeln die Tendenz des 12. Jahrhunderts wider, Texte mit einer gewissen Unabhängigkeit von der Tradition zu interpretieren. Zur Veranschaulichung dieser Charakteristika verfolgt Hollick die Entwicklung der Logik als hermeneutisches Instrument - und insbesondere das gegenseitige Verhältnis zwischen Syllogistik und Topik - im Detail zurück. Mit gediegener Kenntnis sowohl der Quellen als auch der Fachliteratur vergleicht er einerseits die Lehre des Aristoteles, Cicero und Boethius ausführlich und schildert andererseits die unterschiedlichen Wege der Rezeption bis zum 12. Jahrhundert. Das Kapitel endet mit einer Darstellung des modus operandi des Glossators. Anhand von Beispielen, die auch in deutscher Übersetzung vorliegen, zeigt Hollick den knappen Stil der Glossen, ihre syllogistische Gestalt, den rein paraphrasierenden Inhalt sowie den technischen Fortschritt des Glossators im Laufe seiner Tätigkeit.

Mit dem 5. Kapitel (151-207) kommt der Leser der ersten Gruppe von Echternacher Glossen näher, welche sich mit wenigen Auszügen aus Priscians Institutiones befassen. Anhand von Beispielen zeigt Hollick, wie der Glossator Segmente des Haupttextes aus der Perspektive der Logik und der Ontologie innovativ analysierte und dabei traditionelle Fragestellungen vernachlässigte. Eine Entstehung dieser Gruppe von Erklärungen als Abschreibung von Marginal- und/oder Interlinearglossen wird für möglich gehalten (169). Im Kapitel 6 (209-247) widmet sich Hollick den Glossen zu Porphyrios' Isagoge und rekonstruiert sehr überzeugend die Ansichten des Autors in Bezug auf die Universalienfrage. Zeitgenössische Texte, die ähnliche Positionen vertraten, werden herangezogen und verglichen, um die knappe Argumentation der Glossen zu verorten und vervollständigen. Das Kapitel schildert außerdem die historische Entwicklung des Universalienstreits im Westen sowie den selektiven Umgang des Echternacher Glossators mit seinen Quellen. Dieser wird schließlich als "Anhänger der 'collectio'-Theorie" (223) und als "Universalienrealist" (242) präsentiert. Der Auslegung der als aristotelisch geltenden Kategorienschrift war der dritte und letzte Teil der Glossen gewidmet. Diese werden in Kapitel 7 untersucht (249-282). Hollick verdeutlicht darin, wie es dem Echternacher Glossator hauptsächlich darum ging, die Richtigkeit der von ihm im Rahmen der Universalienfrage vertretenen collectio-Theorie zu betonen, auch wenn das zu einer Distanzierung von den eigentlichen aristotelischen Positionen führte. Abschließend fasst Hollick die ontologische Lehre des Glossators zusammen, betont die "methodische wie auch inhaltliche Homogenität" seiner Glossen (281) und lobt seinen kritischen Umgang mit den Quellen.

Das Verhältnis des Echternacher Glossators zu den von ihm ausgelegten auctores wird im Kapitel 8 ("Autorität und Kritik", 283-297) weiter erläutert. Anhand von einigen Beispielen deutet Hollick den teilweise kritischen Umgang des Glossators mit Priscians oder Aristoteles' Meinungen als Zeichen einer von der Tradition emanzipierter Geisteshaltung, die sich von frühmittelalterlichen Praktiken deutlich abhebt und der Scholastik vorauseilt. Hollick schließt seine Darstellung mit der Betonung, dass der Glossator "mehr war als ein bloßer Kompilator: ein zu Kritik fähiger Leser" (296). Die Studie endet mit einer Schlussbetrachtung (299-303), welche den Wert der Echternacher Glossen in der Philosophieforschung betont und ihre bedeutendsten Eigenschaften zusammenfasst.

Der zweite Teil des Bandes umfasst die Edition der drei Kommentare (zu Priscians Institutiones Grammaticae, 315-337; zur lateinischen Fassung von Porphyrios' Isagoge, 339-386; zur lateinischen Kategorienschrift, 387-439). Eine Erläuterung der Editionsprinzipien (307-311) und die Abbildung des f. 21v der Handschrift (338) begleiten sie. Eine umfangreiche Bibliographie (441-493) sowie Indices der zitierten Autoren und Werke, der Personennamen und der erwähnten Handschriften (495-506) schließen den Band ab. Bei einem Buch dieses Umfangs sind Tippfehler unvermeidlich (beispielsweise "Achillesverse", 274; "e-causata", 309). Was den edierten Text betrifft, erlaubt der Vergleich mit der einzigen abgebildeten Handschriftenseite, das gedruckte "per singulari" (339, 10) zu "pro singulari" zu verbessern. Außerdem muss man das edierte "diffinititione" (350, 23) zu "diffinitione" korrigieren. Bedauerlicherweise fehlen Verweise an den jeweiligen Stellen der Edition zu Hollicks entsprechendem Kommentar, die die Benutzung deutlich erleichtert und die innere Kohärenz des Buches erhöht hätten.

Hollicks Arbeit richtet sich an ein Fachpublikum und schließt eine Lücke in der modernen Forschung mit Bezug auf die Rezeption der logica vetus im Kloster Echternach. Der Autor scheint allerdings die mittelalterliche Entwicklung der Interpretationsmethoden in allzu teleologischer Perspektive zu betrachten. Der kritische Umgang des Echternacher Glossators mit seinen Quellen wird als ein Zeichen der "Fortschritte" (282) in der philosophischen Produktion des 12. Jahrhunderts gegenüber dem wortgetreuen Exzerpieren der frühmittelalterlichen Kompilatoren gedeutet. Diese Sichtweise muss nicht unbedingt geteilt werden. Die historische und philologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat erwiesen, dass Kompilation die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung, nicht nur mit den Quellen, sondern auch mit der sozio-politischen Umwelt nicht ausschließt. In Hollicks Worten scheint aber die veraltete Einschätzung von Ernst Curtius noch widerzuhallen, der speziell Hrabanus als einen "öden Kompilator" bezeichnete. [1] Trotz dieser Vorbehalte ist das Buch ein äußerst wertvoller Beitrag zur Rekonstruktion vorscholastischer Auseinandersetzungen mit Logik.


Anmerkung:

[1] Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen / Basel 199311 (1. Aufl. 1948), 95.

Cinzia Grifoni