Rezension über:

Daniel Bohse: Die Entnazifizierung von Verwaltung und Justiz in Sachsen-Anhalt 1945/46 (= Wissenschaftliche Reihe der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt; Bd. 4), Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2017, 720 S., 17 Tabl., ISBN 978-3-95462-797-4, EUR 44,00
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Rezension von:
Clemens Vollnhals
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Vollnhals: Rezension von: Daniel Bohse: Die Entnazifizierung von Verwaltung und Justiz in Sachsen-Anhalt 1945/46, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31117.html


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Daniel Bohse: Die Entnazifizierung von Verwaltung und Justiz in Sachsen-Anhalt 1945/46

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Das Land Sachsen-Anhalt (bis Februar 1947: Provinz Sachsen bzw. Sachsen-Anhalt) entstand im Juli 1945 aus dem territorialen Zusammenschluss der preußischen Provinzen Halle-Merseburg und Magdeburg mit dem Freistaat Anhalt sowie einigen kleineren braunschweigischen und thüringischen Gebieten. Damit knüpfte die Sowjetische Militäradministration Deutschlands (SMAD) an Planungen an, die von Erhard Hübener (LDP), dem Präsidenten der neuen Provinz Sachsen, bereits in der Weimarer Republik zur Neuordnung Mitteldeutschlands diskutiert worden waren.

Ab dem 10. April 1945 besetzten amerikanische Truppen den Westteil des Landes, bis sie am 25. April in Torgau an der Elbe auf sowjetische Verbände trafen. Die ersten Entlassungsmaßnahmen der örtlichen Militärkommandanten konzentrierten sich auf die Verwaltungsspitzen; so wurden in Halle bis Ende Juni 1945 rund 100 NS-Aktivisten aus der Stadtverwaltung entfernt. Diese erste Säuberungsphase unter westalliierter Besatzung - das Gebiet um Magdeburg übernahmen am 24. Mai die Briten - wird von Daniel Bohse in seiner Dissertation sehr ausführlich auf kommunaler und regionaler Verwaltungsebene untersucht. Bei der Besetzung der Führungspositionen griff die amerikanische Militärregierung auf unbelastete Beamte und Politiker aus dem gesamten politischen Spektrum zurück, die bereits in der Weimarer Republik Karriere gemacht hatten. Auf kommunaler Ebene besaßen zudem die Antifaschistischen Ausschüsse, die sich in vielen Orten spontan gebildet hatten, einen großen indirekten Einfluss auf Entlassungen und Neubesetzungen.

Entsprechend den alliierten Abmachungen, übernahm die sowjetische Militärregierung die Herrschaft über das gesamte Gebiet Anfang Juli 1945. Sie verfügte zwar im Unterschied zur amerikanischen über keine konkret ausgearbeiteten Entnazifizierungsrichtlinien, konnte sich aber auf die Ortskenntnis der deutschen Kommunisten stützen. In den ersten Wochen gingen (wie auf amerikanischer Seite) die Militärkommandanten nach eigenem Ermessen vor, so dass Tempo und Umfang der Säuberungen vor Ort recht unterschiedlich ausfielen. Dies änderte sich mit der Etablierung der Sowjetischen Militäradministration in Halle und der Bildung des Präsidiums der Provinz Sachsen, dessen Leitung der frühere (bereits von den Amerikanern wieder eingesetzte) Landeshauptmann Hübener übernahm. Das machtpolitisch wichtige Innenministerium ging, wie nicht anders zu erwarten, an den Kommunisten Robert Siewert.

Anfang September 1945 erließ das Präsidium erstmals eine Verordnung, die für die gesamte Provinz galt. Sie unterschied zwischen aktiven und nominellen NSDAP-Mitgliedern, für deren Überprüfung paritätisch aus den Blockparteien zusammengesetzte Kommissionen zuständig sein sollten. Zu diesem Zeitpunkt waren von rund 126.000 Behördenmitarbeitern noch 37.000 frühere Parteigenossen. Auf verstärkten Druck der Sowjetischen Militäradministration erging Mitte Oktober die Anweisung, dass grundsätzlich alle NSDAP-Mitglieder zu entlassen seien, was in dieser rigiden Form nicht durchführbar war und mit zahlreichen Ausnahmegenehmigungen unterlaufen wurde. Gleichwohl lag zum Jahreswechsel 1945/46 etwa im Regierungsbezirk Dessau der Anteil von NSDAP-Mitgliedern in den Stadtverwaltungen fast durchweg unter drei Prozent.

Das forcierte Werben der Parteien, speziell auch der SED, um den "kleinen Parteigenossen" vor dem Hintergrund der Kommunal- und Landtagswahlen im Herbst 1946 führte zu einem gewissen Stillstand, so dass die Entnazifizierung im Wesentlichen schon Ende 1946 abgeschlossen war. Zu diesem Zeitpunkt betrug der durchschnittliche Anteil der durch frühere NSDAP-Mitgliedschaft Belasteten in den Kreis- und Stadtverwaltungen lediglich 3,7 Prozent. In den Bezirksregierungen und der Provinzialregierung lag er etwas höher: bei letzterer 5,0 Prozent, bei der Bezirksregierung Dessau 5,4 Prozent, bei der Bezirksregierung Merseburg 6,1 Prozent und bei der Bezirksregierung Magdeburg 9,5 Prozent.

Insofern ist es durchaus angemessen, dass sich der Autor in seiner Darstellung auf die Jahre 1945 und 1946 konzentriert und den abermaligen Durchgang des Entnazifizierungsverfahrens auf Basis der Kontrollratsdirektive Nr. 24 und dem späteren SMAD-Befehl 201 vom August 1947 nur in einem Ausblick von rund 30 Seiten behandelt. Denn tatsächlich besaßen die bis April 1948, dem offiziellen Abschluss der Entnazifizierung, noch erfolgten Entlassungen nur einen geringen Umfang. Wie Bohse überzeugend aufzeigen kann, gab es den von der SMAD und später auch von der DDR-Historiografie unterstellten Säuberungsrückstand in Sachsen-Anhalt nicht. Dies gilt auch für die amerikanischen Entnazifizierungsmaßnahmen in den ersten Besatzungswochen, die sich in der Anfangszeit kaum von den sowjetischen unterschieden. Ein großes Kapitel ist ferner dem Neuaufbau und der politischen Säuberung der Justiz in Sachsen-Anhalt gewidmet.

Die vorliegende Arbeit zeichnet auf breiter Quellenbasis sehr detailliert Ablauf und Durchführung der Entnazifizierung vor Ort nach und stellt somit einen reichhaltigen Fundus für weitere Lokalstudien zum politischen Umbruch 1945 bereit. Dass die einschlägigen Aktenbestände der Sowjetischen Militäradministration weiterhin gesperrt sind, kann man dem Verfasser nicht anlasten. Die Entnazifizierung folgte in Sachsen-Anhalt im Großen und Ganzen dem allgemeinen Verlauf der politischen Säuberung in der Sowjetischen Besatzungszone. Sie diente nicht nur der politisch und moralisch gebotenen Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, sondern ebnete, wie auch diese Studie anschaulich zeigt, zugleich den Weg zur kommunistischen Machtdurchsetzung.

Clemens Vollnhals