Franz-Josef Brüggemeier: Grubengold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute, München: C.H.Beck 2018, 456 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-72221-9, EUR 29,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Miriam A. Bader-Gassner: Pipelineboom. Internationale Ölkonzerne im westdeutschen Wirtschaftswunder, Baden-Baden: NOMOS 2014
Dierk Hoffmann / Ulf Brunnbauer (Hgg.): Transformation als soziale Praxis. Mitteleuropa seit den 1970er Jahren, Berlin: Metropol 2020
Christoph Buchheim / Marcel Boldorf (Hgg.): Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938-1945, München: Oldenbourg 2012
Franz-Josef Brüggemeier: Geschichte Grossbritanniens im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2010
Franz-Josef Brüggemeier: Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute, Essen: Klartext 2014
Andreas Bauer: Das Wunder von Bern. Spieler - Tore - Hintergründe: Alles zur WM 54, Augsburg: Wißner 2004
Franz-Josef Brüggemeier ist der erste Historiker, der die Geschichte der Steinkohle als europäisches Thema aufgreift. Ein gar nicht so leichtes Unterfangen, kann sich der Autor zwar auf zahl- und facettenreiche "Revierstudien" von Westeuropa bis zum Donezbecken stützen, aber nur auf wenige Abhandlungen zum Kohlebergbau ganzer Länder. Doch gelingt es Brüggemeier, dem globalen "King Cotton" ("König Baumwolle") eines Sven Beckert [1] einen europäischen "König Kohle" gegenüber zu stellen: die Beschreibung und Analyse einer weit über einhundert Jahre währenden Epoche des Kapitalismus von einem einzigen Rohstoff aus.
Steinkohle ist nicht irgendein Rohstoff. Es war der Stoff, welcher die europäische Gewerbeentwicklung seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts drastisch beschleunigte und dem Industrialisierungsweg eine andere Richtung gab. Steinkohle bestimmte schon bald die Rangordnung der europäischen Machtstaaten und festigte die Herrschaft dieser Mächte über weite Teile der Welt. Erst spät, Anfang der 1960er-Jahre verdrängte das Erdöl die Kohle von ihrem ersten Platz.
In seiner chronologischen Darstellung geht der Autor zunächst auf die erstaunlich lange Vorgeschichte ein, in der Steinkohle allenfalls in kleinen Mengen gefördert wurde. Bis in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts wurde sie nur genutzt, um Wärme zu erzeugen, erst danach, um Maschinen anzutreiben. Mit der Dampfmaschine - so Brüggemeier - begann der Durchbruch der Steinkohle in der gewerblichen Wirtschaft: Zunächst für die Wasserhaltung im Bergbau, dann für den Antrieb von Schiffen und Eisenbahnen sowie für die Produktion von Stahl und Schienen. Eisenbahnen lösten wiederum das Kernproblem der Steinkohleförderung. Sie senkten die Transportkosten für das Massengut drastisch.
In den Kapiteln 2 bis 9, dem Hauptteil des 458 Seiten starken Buches, verfolgt Brüggemeier - Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Freiburg - die steile Karriere der Steinkohle bis 1958 in ausgewählten europäischen Staaten, aber immer wieder auch länderübergreifend und in transnationaler Perspektive. Sein außergewöhnliches wissenschaftliches Œuvre ermöglicht Brüggemeier jenen notwendig breiten Zugang zu den vielfältigen Aspekten, Entwicklungen und Folgen, die mit der Steinkohle verbunden sind: von der Sozial- und Alltagsgeschichte der auf dem Höhepunkt über zwei Millionen Bergarbeiter in Europa über den Siegeszug einer diversifizierten, kohlebasierten Chemieindustrie bis hin zur Umweltproblematik oder zur Montanunion, aus der 1957 die EWG und 1992 die Europäische Union hervorgingen - um nur einige zu nennen. Der Verlag hätte keinen geeigneteren Autor finden können. Denn Brüggemeier bewältigt nicht nur mit kühlem analytischen Blick die Vielseitigkeit und Komplexität des Themas, er zeigt auch erzählerische Qualitäten, vor allem in den umwelt- und sozialgeschichtlichen Abschnitten des Buches sowie in der Darstellung seiner Fallbeispiele.
Für den Autor ist das "Grubengold" Segen und Fluch zugleich. Als preiswerter Energielieferant ermöglichte es einen wachsenden Wohlstand. Doch Kohle verpestete die Luft, vor allem in den Industrierevieren und den großen Städten. Nicht zuletzt ruinierte die Kohlegewinnung, die noch bis weit ins 20. Jahrhundert vornehmlich in Handarbeit geschah, die Gesundheit der Bergarbeiter. Im Ruhrgebiet waren Bergleute mit dem 40. Lebensjahr "bergfertig", d.h. nicht mehr dazu in der Lage, die schwere Arbeit in der Grube zu leisten. Ihre Lebenserwartung war - so Brüggemeier - vor 1918 im Vergleich zu anderen Berufsgruppen besonders gering. Lange Zeit unbeachtet stieg auch der Anteil des Kohlendioxids in der Atmosphäre deutlich an.
Zu dem Hauptteil des Buches ist kaum Kritik zu formulieren. Allenfalls hätten die Konflikte zwischen der preußischen Bergbaudirektion und den privaten Grubenbesitzern im Vormärz auch als eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Zukunftserwartungen im Übergang zu einer Wachstumsökonomie dargestellt werden können. [2] Auch fällt auf, dass der Autor die offenbar aus den Produktionsstrukturen der Bergwerke entstehende Affinität von größeren Teilen der europäischen Bergarbeiterschaft zum Anarcho-Syndikalismus zwischen Jahrhundertwende und den 1930er-Jahren kaum beleuchtet. Sogar der deutschen Sozialdemokratie machten nicht nur polnische oder christliche Gewerkschaften zu schaffen.
Die beiden letzten Kapitel widmet Brüggemann dem Abstieg des "Königs" von seinem Thron. Zumindest in Westeuropa ging im Laufe der 1960er-Jahre die Förderung von Steinkohle trotz Modernisierungsmaßnahmen in Großbritannien und der Bundesrepublik rasch zurück, die Zahl der Arbeitsplätze noch rascher. Mit der Gründung der bundesdeutschen Ruhrkohle AG kam 1968 der letzte europäische Steinkohlebergbau von Bedeutung unter öffentliche Kontrolle. Nun war die politisch-staatliche Überformung der Bergbauindustrie in Europa vollends abgeschlossen und dem "Zeitalter des Grubengoldes" folgte die Epoche der - auf die Steuerzahler oder die privaten Stromverbraucher abgewälzten - Subventionen. Eine Epoche des mehr oder weniger kontrollierten bzw. "sozialverträglichen" Niedergangs der Steinkohleförderung, die sich in Deutschland als besonders zählebig und extrem kostspielig erweisen sollte, vornehmlich aufgrund des korporativ agierenden Machtblocks von ehemals vertikal integrierten Kohle/Stahl/Stromkonzernen, der IG-Bergbau und der SPD. Die letzten zwei großen Zechen in Bottrop und Ibbenbüren werden erst Ende 2018 stillgelegt.
Brüggemeier ist erkennbar um eine zwar kritische, aber auf Ausgewogenheit achtende Darstellung dieses deutschen Wegs bemüht. Bisweilen reibt sich sein unaufgeregter Stil allerdings an den haarsträubenden Fakten, die er nüchtern präsentiert: zum Beispiel 200 Milliarden Euro (!) Subventionen für die Abwicklung des Steinkohlebergbaus bis heute, wahrscheinlich eher 300 Milliarden aufgrund eines über Jahrzehnte gewachsenen Systems der organisierten Intransparenz. Und dann - was der Autor so nicht erwähnt - der gegen die damals bereits wachsende Erkenntnis vom unvermeidlichen Ende der Steinkohle durchgesetzte Bauboom von Steinkohlekraftwerken in den 1980er-Jahren! "Teilmodernisiert" und "Abgeschrieben" stellen sie heute noch das Gros der Steinkohlekraftwerke und verdrängen ökologisch weniger schädliche Gaskraftwerke, die teurer produzieren müssen.
Punktuelle Kritik soll freilich den Wert dieses Buches nicht schmälern. Als eine europäische Geschichte von einem einzigen und wohl einzigartigen Rohstoff her folgt es einem innovativen Ansatz und zeugt zugleich von der Vielseitigkeit, dem über Jahrzehnte akkumulierten Wissen und dem hohen Reflexionsniveau des Autors. Es ist gut lesbar und verständlich geschrieben, mithin auch für ein interessiertes Publikum und nicht nur für Historikerinnen und Historiker empfehlenswert.
Anmerkungen:
[1] Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2014, http://www.sehepunkte.de/2015/09/26089.html.
[2] Rudolf Boch: Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814-1857, Göttingen 1991, 134ff.
Rudolf Boch