Reinhilt Richter-Bergmeier: Honoré Bovet: L'arbre des batailles. L'arbre des batailles. Édition d'après le manuscrit Bibliothèque de Genève (BGE), Comites latentes 168 (= Textes littéraires français), Genève: Droz 2017, CXXII + 830 S., ISBN 978-2-600-04712-8, EUR 74,88
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Die Vita des Honoré Bovet lässt sich auf der Grundlage autobiografischer Hinweise und archivalischer Überlieferung wenn nicht erschöpfend, so doch immerhin in ihren Grundzügen rekonstruieren. Geboren zwischen 1345 und 1350 in der Provence, trat Bovet jung in den Benediktinerorden ein und amtierte ab 1371 als Prior der Abtei Salon. Ein Studium des kanonischen Rechts führte ihn nach Montpellier und Avignon. Bovet gilt als Verfasser zahlreicher Schriften, keine aber ist bekannter als der König Karl VI. gewidmete Arbre des batailles, verfasst zwischen 1386 und 1389. Der junge seit 1380 amtierende König, den erst ab 1392 das Schicksal geistiger Umnachtung treffen sollte, wurde auf Bovet aufmerksam, zog ihn zu diplomatischen Missionen im Languedoc heran und ernannte ihn 1392 zum königlichen Ratgeber. In Urkunden taucht Bovet zuletzt 1409 auf. Sein Leben spielte sich also innerhalb eines geografischen Dreiecks Avignon - Paris - Grafschaft Provence ab. Aufgrund seiner diplomatisch-politischen Reisetätigkeit war er mit den drängendsten Problemen seiner Zeit vertraut: dem Krieg mit England und dem Großen Schisma.
Bereits ein flüchtiger Blick auf den der Edition beigefügten Sachindex (Table analytique, 647-686) zeigt die Konzentration auf wenige, eng miteinander verbundene Themengebiete. Denn diejenigen Begriffe, die mit Abstand am meisten Einträge zählen, sind: droit, bataille, guerre, justice, loy, povoir, prince, prison / prisonnier, privilege, raison, roy und seigneur. Dies mag eine erste Ahnung vom Inhalt der Abhandlung vermitteln.
In seinem Vorwort legt Bovet die vier Gründe dar, die ihn zur Abfassung des in vier Bücher gegliederten Arbre des batailles veranlassten: 1. der erbarmungswürdige Zustand der Kirche; 2. die Kriege unter den Christen; 3. die politischen Unruhen in der Provence und 4. die Prophetien einiger "clercs nouveaux", die das Kommen eines französischen Königs ankündigen, durch den alle Bedrängnisse beseitigt werden sollen. Bei der Behandlung des letzten Punktes zeigt sich Bovet klar von der Gedankenwelt eines Jean de Roquetaillade beeinflusst. Wenig überraschend geht Bovet davon aus, dass Karl VI. dieser heißersehnte König ist.
In seinem Werk vereint Bovet Theologie, Kirchen- und Profangeschichte, Recht, Politik und Prophetien zu einer Melange, die klar den Interessen der französischen Monarchie dient. Den Arbre des batailles könnte man als Fürstenspiegel für den jungen Karl VI. interpretieren und ihn somit an die Seite des Songe du vieil pelerin aus der Feder des Philippe de Mézières stellen. Er ist Kompilation, Übersetzung und Neuschöpfung in einem - ein Werk öffentlichen Interesses, das zu den großen politischen Schriften in französischer Sprache des ausgehenden Mittelalters gezählt werden muss.
Der Titel des Werks operiert mit der Baumallegorie, die im späten Mittelalter häufiger dazu diente, abstrakte Beziehungen zu illustrieren. Petus Hispanus, Matfré Ermengaud, vor allem aber Raymundus Lullus hatten sie zuvor in ihren Schriften erfolgreich genutzt und damit ein Abstraktionsniveau erreicht, das man bei Bovet vergeblich sucht. Der französische Benediktiner zielt in seinem Werk aber auch weniger auf die theoretisch-abstrakte Durchdringung von Sachverhalten, denn auf ihre Beschreibung und praktische Nutzbarmachung für das hic et nunc.
Die Teile, die dem Krieg gewidmet sind, präsentieren sich denn auch ausgesprochen vielseitig und reichen von der juristischen und theologischen Begründung des Kriegs über die Besoldung der Soldaten bis hin zu den Grundlagen des Feudalrechts oder den Rechten der Kirche und ihrer Angehörigen in Kriegszeiten. Eher Theoretisches steht neben moralischen oder politischen Erwägungen (als nützlich zur ersten Orientierung erweist sich die Auflistung der Themen XXVII-XXVIII). Bovet sieht den Krieg durch Gott, das Kirchen- und das Naturrecht autorisiert.
Wichtiges erfährt man über die Stellung des französischen Königs gegenüber dem Kaiser (IV 3; IV 83). Die Souveränität des Franzosen wird argumentativ durch den Verweis auf die trojanischen Ursprünge, die Exemtion durch Kaiser Valentinian, die besondere Stellung aufgrund der Sukzession Karls des Großen (König und Kaiser in einer Person) und durch die Schutzfunktion der französischen Monarchie für Papst und Kirche untermauert. Diese Gedanken zur Souveränität werden in dem Kapitel über den guten König (IV 137) konsequent weiterentwickelt. Gute Wünsche an den jungen Karl VI., die fast an einen Segen gemahnen, schließen sich an (IV 137 22).
Bovet greift zuvorderst auf den biblischen Text zurück (auch wenn sich hinter dem Verweis auf "la sainte Escripture" des Öfteren das Decretum Gratiani verbirgt), nutzt aber auch die Chroniken des Bartholomäus von Lucca, Martinus Polonus und anderen. Für die eher juristischen geprägten Teile werden vor allem Giovanni da Legnano mit seinem Traktat De Bello, de Represaliis et de Duello und Aegidius Romanus mit seinem Fürstenspiegel De regimine principum herangezogen. Diese juristischen Ausführungen, ganz der scholastischen Argumentationsmethode verpflichtet, reichert er mit Beispielerzählungen aus der französischen Alltagswirklichkeit an. Bovet verfasst sein Werk in Avignon - und der Zugriff auf die umfangreichen Bibliotheken in der Papststadt dürfte ihm sein Vorhaben nicht unwesentlich erleichtert haben. Bovet beherrscht seinen Stoff strukturell, was nicht zuletzt auch durch häufige interne Verweise innerhalb des Arbre des batailles unter Beweis gestellt wird. Die moderne Forschung sieht in Bovet zwar nicht mehr unbedingt einen Vorläufer von Hugo Grotius, anerkennt aber die Rolle, die er bei der Herausbildung eines Zweiges des internationalen Rechts, nämlich des Kriegsrechts, geleistet hat.
Nach derzeitigem Stand überliefern 87 Handschriften den Text. 22 Handschriften sind über alte Inventare nachweisbar, haben die Zeitläufte jedoch nicht überdauert. Zu diesen 109 Codices kommen weitere 13 hinzu, die Übersetzungen ins Katalanische, Okzitanische, Spanische und Schottische enthalten. Der Text verbreitete sich sehr schnell nicht zuletzt deshalb, weil er auf die Bedürfnisse der Zeit reagierte: wie konnten die allenthalben schwelenden Konflikte in Kirche und Monarchien bewältigt, wie konnte dem Krieg ein Ende bereitet werden? Sehr schnell wurde der Text auch gedruckt: sechs Frühdrucke zwischen 1480 und 1520 sind bekannt. Umfangreiche Textblöcke aus dem Arbre wurden von Thomas de Saluce (†1416) und Christine de Pizan (†c. 1430) in ihre eigenen Werke, den Chevalier errant bzw. den Livre des fais d'armes et de chevalerie übernommen.
Der Edition zugrunde gelegt wurde die Handschrift Comites latentes 168 der Universitätsbibliothek Genf, entstanden 1397 in Paris (vgl. die Beschreibung LXVI-LXXV). Es handelt sich dabei um die älteste datierte Handschrift des Werks - eine Handschrift, die sich einst im Besitz des Herzogs von Berry befand, häufiger den Eigentümer wechselte, um 1975 auf einer Auktion von einem Privatmann ersteigert zu werden, der die Größe besaß, sie der Genfer Bibliothek als Depositum zur Verfügung zu stellen. Die Handschrift mit 320 expliziten Verweisen auf Autoritäten repräsentiert den Hauptstrom der Überlieferung. Als "manuscrits de contrôle" wurden weitere sieben Handschriften herangezogen (zu Auswahl und Beschreibung vgl. C-CX), die die ganze geografische und zeitliche Spannbreite der Handschriften-Tradition widerspiegeln - der kritische Apparat verzeichnet freilich nur die Varianten von vier von ihnen. Eine Art apparatus rerum notabilium findet sich am Ende des Textes (559-639). Im Haupttext werden diese später kommentierten res notabiles mittels eines Sterns gekennzeichnet. Die für die Textherstellung maßgeblichen Editionskriterien gehen auf die "Conseils" der École nationale des Chartes zurück. Die Unterteilung des Arbre in Bücher und Kapitel folgt derjenigen der Genfer Handschrift.
Die alte, fehlerhafte Edition des Textes durch Ernest Nys (1883) ist damit obsolet geworden. Die Forschung kann jetzt auf einen mustergültig edierten und durch allerlei Indices ebenso mustergültig erschlossenen Text zurückgreifen, der zukünftig bei der weiteren Erforschung der Regierungszeit Karls VI. wertvolle Dienste leisten dürfte.
Ralf Lützelschwab