Martin Göllnitz: Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927-1945) (= Kieler Historische Studien; Bd. 44), Ostfildern: Thorbecke 2018, 670 S., 27 Tbl., 7 Abb., ISBN 978-3-7995-5944-7, EUR 86,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
"NS-Aufarbeitung", Behördenforschung und auch die Geschichte wissenschaftlicher Institutionen liegen im Trend. In Bezug auf die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit ist die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gegenwärtig dabei, unter den deutschen Universitäten eine führende Stellung einzunehmen. Das Historische Seminar organisierte in den vergangenen Jahren zwar auch die üblichen - und meist in wissenschaftlicher Hinsicht wenig ergiebigen - Jubiläums- und Sammelbände zur Universität im Nationalsozialismus, zur gesamten Universitätsgeschichte und zur Wiederbegründung nach dem Zweiten Weltkrieg [1], seine Tätigkeit geht jedoch mittlerweile weit darüber hinaus.
Das Flaggschiff bildet der Aufbau eines "Gelehrtenverzeichnisses" von über 900 Kieler Professorinnen und Professoren aus den Jahren 1919 bis 1965, das nicht nur für die qualitative Forschung nützlich ist, sondern auch den Einsatz quantifizierender Methoden ermöglicht. [2] Parallel zu dieser Datenbank entstand neben der hier besprochenen Dissertation von Martin Göllnitz über die Kieler Studentenführer in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik und im "Dritten Reich" auch eine Reihe noch laufender Promotionsvorhaben. Diese befassen sich unter anderem mit den Kieler Hochschulkarrieren in der NS-Zeit, der Universität Kiel als Mittlerin zur skandinavischen Wissenschaft und den Kieler Naturwissenschaftlern im 19. Jahrhundert.
Göllnitz nimmt mit den Studierenden eine Gruppe in den Blick, die bisher in der deutschen Universitätsgeschichte "fast vollständig ausgeblendet" wurde (11). Seine Untersuchung konzentriert sich auf 39 Studentenfunktionäre, welche im Zeitraum von 1927 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Spitzen der Kieler Studentenschaft, der Hochschulgruppe des NS-Studentenbunds und der schleswig-holsteinischen Gauleitung bildeten (14). Um ihre Handlungs- und Einflussmöglichkeiten auf die regionale und reichsweite Hochschulpolitik zu analysieren, geht Göllnitz intensiv auf die Interaktionen mit Akteuren wie den Korporationen, der Universitätsleitung oder dem Reichserziehungsministerium ein. Mit dem Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu und dem Ressourcen-Ansatz von Mitchell G. Ash verfügt Göllnitz dabei über einen nützlichen theoretischen Hintergrund. Beachtenswert ist auch das statistisch reich unterfütterte Kapitel über das Sozialprofil der Kieler Studierenden, das ein "wesentlicher Faktor für die Gestaltung der Handlungsfelder von jungakademischen Funktionären war" (171). Für manche Leserin und manchen Leser dürfte schon allein dieser Abschnitt von Interesse sein, der durchaus eine Berücksichtigung im Buchtitel verdient gehabt hätte.
Das von Göllnitz gewählte Fallbeispiel Kiel ist aus zwei Gründen hochinteressant: Erstens waren die nationalsozialistischen Studentenfunktionäre hier auffallend aggressiv und geschickt, sodass sie bereits 1927 Schlüsselpositionen besetzen konnten (68). Für die Phase der "Machtergreifung" im ersten Halbjahr 1933 identifiziert Göllnitz sie dann als die maßgeblichen hochschulpolitischen Kräfte, welche die reichsweit vorgegebenen Ziele, etwa in Bezug auf Professorenvertreibungen, erheblich übertreffen konnten (168). Zweitens wurden in der anschließenden "Phase der Subordination" 1934-1936 innovative Wege der Betätigung gefunden, mit denen Kiel erneut zu einer "selbstgewählten Vorreiterrolle" gelangen konnte (558). Zu nennen ist hier insbesondere das Lager Buchenhagen als neugeschaffener Ort der ideologischen Schulung und "Auslese".
In seiner Rekonstruktion und Analyse verdeutlicht Göllnitz die Brutalität seiner Protagonisten und ihren in den jeweiligen Phasen bestehenden Einfluss. Ein Manko ist hier allerdings die Darstellung der Vertreibungen im April 1933, denen die Überschrift "Professorenboykott" nicht gerecht wird. Die Wirtschaftswissenschaftler wurden beispielsweise nicht nur einmal und auch nicht nur von wenigen Nationalsozialisten attackiert. Vielmehr handelte es sich um insgesamt fünf Überfälle, die sich über mehrere Wochen erstreckten, durchgeführt von bis zu 30 teils mit Handfeuerwaffen bewaffneten Studierenden und SA-/SS-Männern.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Entscheidung des Autors, für sein Buch keine rein chronologische, sondern eine primär thematische Gliederung zu wählen. Zu unvermittelt steigt er jedoch mit den Handlungsspielräumen und Motivationen seiner Protagonisten ein und möchte bereits im ersten Sachkapitel seine Kernthese belegen, dass diese tatsächlich die politischen Aktivitäten der Studierendenschaft führten und innerhalb der Hochschule eine machtvolle beziehungsweise im ersten Halbjahr 1933 sogar eine tonangebende Stellung einnehmen konnten. Erst im nächsten Kapitel folgt dann die quantitative Analyse der Studierenden. Mit einer umgekehrten Reihenfolge und klareren Bezügen zu Erkenntnissen früherer Kapitel hätte Göllnitz übersichtlicher und stringenter argumentieren können.
Der Studie hätten außerdem ausführlichere Zwischenfazits sowie eine umfassendere Schlussbetrachtung gutgetan. So ist man gezwungen, den vielen guten Gedanken und Erkenntnissen des Autors im insgesamt 670 Seiten umfassenden Werk nachzuspüren. Die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen werden so leider nicht alle adressiert. Auch die aufwändig recherchierten und zumeist sehr aussagekräftigen 19 Tabellen und sieben Grafiken sind im Fließtext versteckt. Hier gibt es kein Verzeichnis, das die Suche erleichtern würde. Ferner gibt es noch einen tabellarischen Anhang, der zwar nicht fehlerlos [3], jedoch trotzdem nützlich ist. Lobend hervorzuheben sind ferner der knappe biographische Anhang sowie das Orts- und das Personenregister.
Zum Abschluss regt Göllnitz Vergleichsstudien an, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der von ihm betrachteten Protagonisten mit den NS-Studentenfunktionären anderer Universitäten zu identifizieren. Inspiriert von jüngeren Studien zur Führungsschicht des Reichssicherheitshauptamtes sieht er sein Buch ebenfalls als einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der akademisch gebildeten nationalsozialistischen "Weltanschauungselite" und ihres "generationellen Stils" (Ulrich Herbert) (499, 551, 562). Ebenfalls interessant ist der Vorschlag einer Längsschnittstudie, um "die Funktionsweise studentischer Interessenvertretungen über das ganze 20. Jahrhundert auszuloten" (563). Auch vor dem Hintergrund des seit 50 Jahren gelegentlich ohne die nötige empirische Fundierung und mit teils eindeutigen politischen Absichten bemühten Vergleichs der jungakademischen Führungsfiguren von "1968" mit jenen aus dem "Dritten Reich" wäre eine solche Studie wünschenswert. Für die nationalsozialistischen Studentenfunktionäre liegt nun dank Martin Göllnitz eine detailreiche und umfassend kontextualisierte Fallstudie vor.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Christoph Cornelißen / Carsten Mish (Hgg.): Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009; Oliver Auge (Hg.): Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt, Kiel / Hamburg 2015; Christoph Cornelißen (Hg.): Wissenschaft im Aufbruch. Beiträge zur Wiederbegründung der Kieler Universität nach 1945, Essen 2015.
[2] Vgl. http://www.gelehrtenverzeichnis.de/, letzter Zugriff: 31.07.2018.
[3] Beispielsweise agierte Andreas Predöhl bereits im November 1941 und nicht erst im Sommersemester 1942 als Rektor der Kieler Universität.
Gunnar Take