Rezension über:

Pauline Duley-Haour: Désert et Refuge: sociohistoire d'une internationale huguenote. Un réseau de soutien aux "Églises sou la croix" (1715-1752) (= Vie des Huguenots; 77), Paris: Editions Honoré Champion 2017, 502 S., ISBN 978-2-7453-3178-6, EUR 80,00
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Rezension von:
Susanne Lachenicht
Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Bayreuth
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Lachenicht: Rezension von: Pauline Duley-Haour: Désert et Refuge: sociohistoire d'une internationale huguenote. Un réseau de soutien aux "Églises sou la croix" (1715-1752), Paris: Editions Honoré Champion 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 11 [15.11.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/11/31190.html


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Pauline Duley-Haour: Désert et Refuge: sociohistoire d'une internationale huguenote

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1685 widerruft Ludwig XIV. von Frankreich das Edikt von Nantes, das seit 1598 Protestanten in Frankreich Schutz und in gewissem Umfang Religionsfreiheit gewährt hatte. Dem Protestantismus in Frankreich sollte damit ein Ende bereitet werden. Trotz Auswanderungsverbot verließen zwischen 1681 und 1715 schätzungsweise 150.000 von ca. 750.000 Hugenotten das Land, um in den Ländern des Refuge Asyl (so die Quellen) zu finden. Der Großteil blieb in Frankreich, konvertierte zum Katholizismus oder wurde zwangskonvertiert bzw. organisierte sich in den Eglises du désert, Geheimkirchen im Untergrund, die bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts von den königlichen Behörden verfolgt wurden. Im Refuge entwickelten sich französisch-calvinistische Gemeindestrukturen, die zum Teil - wie in der Berliner Hugenottenkirche - bis heute Bestand haben. Der französische Protestantismus entstand so spätestens nach 1685 in den Ländern des Refuge neu, u.a. in der Schweiz, den Niederlanden und ihren Kolonien, in England (mit Irland und den britischen Kolonien in Nordamerika), in Brandenburg-Preußen, in Dänemark und Schweden, aber auch im russischen Zarenreich. Die Kirchen der Wüste in Frankreich mussten zunächst ohne Pastoren auskommen, da diese 1685 im Edikt von Fontainebleau des Landes verwiesen worden waren. Besonders im Languedoc formierte sich gegen die Unterdrückung des Protestantismus Widerstand, der sich in Aufständen und von 1702 bis 1705 in den Cevennenkriegen entlud, die blutig von den Truppen des Königs niedergeschlagen wurden. Aus dem Kreis der Aufständischen der Cevennen, den Camisarden, entstanden Netzwerke der "Proselyten" bzw. "French Prophets", die zum Unbill anderer Teile des Refuge massiven Einfluss auf die Geheimkirchen in Frankreich hatten. [1]

Die Frage, die nicht nur Konflikte zwischen Repräsentanten der Geheimkirchen und Pastoren des Refuge mit sich brachte, sondern auch Letztere untereinander spaltete, war, ob denn der französische Protestantismus besser im Refuge oder in den Geheimkirchen in Frankreich überleben konnte. Wer diente Gott und dem wahren Glauben besser? Diejenigen, die aus Frankreich geflohen, oder diejenigen, die geblieben waren?

Hier setzt die Dissertation von Pauline Duley-Haour an, die die Korrespondenzen von Pastoren des Refuge sowie von Repräsentanten der Kirchen der Wüste untersucht. Hauptquelle für diese Studie ist die Korrespondenz des aus dem Vivarais stammenden Pastors Antoine Court (1696-1760). Als Kryptoprotestant partizipierte er zunächst an den Camisardenaufständen, von denen er sich aber nach und nach distanzierte. Nun warb er für eine systematische Wiedererrichtung der calvinistischen Kirchen in Frankreich, ab 1729 aus dem Exil in Lausanne heraus, wohin er sich geflüchtet hatte und bis zu seinem Lebensende blieb.

Eine Sozialgeschichte der "hugenottischen Internationale" des Refuge und eine systematische Rekonstruktion des Netzwerkes um Antoine Court ist diese Arbeit - wie dies der Titel suggeriert - nicht. Die Lektüre der 408 Seiten zeigt vielmehr, dass es sich um eine fundierte, differenzierte Analyse der Inhalte der Korrespondenzen in Bezug auf die Frage der Kirchen der Wüste handelt, aus der sich Netzwerkstrukturen hätten erschließen lassen.

Kapitel 1 beginnt mit Positionen von Kryptoprotestanten angesichts der Flucht ihrer Pastoren nach 1685. Es zeigt deutlich die Risse bis Verwerfungen, die in den ersten Jahrzehnten zwischen den beiden Polen des französischen Protestantismus entstanden, die gegenseitigen Vorwürfe, dem "wahren Glauben" durch die Wahl "Bleiben" oder "Fliehen" nicht angemessen gedient zu haben. Die Antwort, die sich in den Spannungen zwischen den Pastoren im Refuge und Repräsentanten der Kirchen der Wüste formiert, ist, im Refuge ausgebildete Pastoren nach Frankreich zu bringen, wo sie v.a. kryptoprotestantische Jugendliche "auf den richtigen Weg" bringen sollten. Es geht um die strukturelle Neuordnung des Protestantismus in Frankreich, um die Orthodoxie des Glaubens, aber v.a. auch um konfessionelle Praktiken, für die die Pastoren des Refuge Verwahrlosung, "papistische" Tendenzen und "Fanatismus" konstatieren.

Kapitel 2 beschäftigt sich mit den Debatten um die Optionen des französischen Calvinismus: 1) Kompromisse vor Ort, d.h. Nikodemismus? 2) Auswanderung, um den "wahren Glauben" leben zu können, was aber heißt, die Glaubensgenossen im Stich zu lassen bzw. - so die Perspektive von Kryptoprotestanten - zu feige zu sein, sich der Verfolgung in Frankreich auszusetzen, kein Märtyrer des Glaubens werden zu wollen. Die 3. Option besteht in der widerrechtlichen Errichtung von protestantischen Strukturen in Frankreich, die als illegitimer Widerstand und als Mangel an Loyalität gegenüber der französischen Krone dargestellt werden. Pauline Duley-Haour analysiert diese Positionen präzise und nuanciert, macht deutlich, dass diese scheinbar klar voneinander zu trennenden Optionen nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Positionen der Korrespondenten fluide sind. Letztendlich setzte sich in großen Teilen des Refuge der Wille zur Unterstützung der protestantischen Geheimkirchen in Frankreich durch. Das protestantische Frankreich versuchte es mit Einheit und Solidarität.

Angesichts der Alberoni-Affäre 1719/20 [2] wird die Frage, wie denn die illegale Wiedererrichtung der protestantischen Kirchen in Frankreich mit der notwendigen Loyalität gegenüber der französischen Krone zu vereinbaren sei, virulent und spaltet erneut das protestantische Frankreich im In- und Ausland. Wie sich französische Protestanten zu diesem Problem zu verhalten hatten, damit beschäftigen sich Kapitel 3 und 4. Im Zentrum stehen die Rückkehr zu Kirchenordnung und -zucht sowie der Versuch, den Einfluss der "französischen Propheten" um Abraham Mazel und seine Anhänger zurückzudrängen.

Als probates Mittel wird einerseits die Ausbildung von Pastoren im Refuge, v.a. in Lausanne, gesehen, die - so Kapitel 5 bis 8 - zur moralischen und materiellen Unterstützung, aber auch zum Aufbau von Kirchenstrukturen und zur Durchsetzung von Kirchenordnung und -zucht nach Frankreich geschickt werden sollten, wo sie dem Risiko von Verfolgung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt waren. Kapitel 9 bis 13 der Studie beschäftigen sich mit den internen Diskussionen um die notwendige "Öffentlichkeit" der Unterstützung der Kirchen der Wüste bzw. mit der Kritik an deren heterodoxen Lehren und Praktiken und der Legitimität ihrer Existenz. Ebenso werden Strategien für einen Dialog mit der französischen Krone thematisiert bzw. die Diskussionen, ob und wie man die Kirchen der Wüste in den französischen Staat reintegrieren und das protestantische Europa zu einer Anerkennung bringen könne.

Ein Problem dieser Arbeit stellt der Mangel an historischem Kontext dar, in den die Analysen der Korrespondenz um Antoine Court hätten integriert werden müssen, um die Positionen ihrer Autoren besser verstehen zu können: Zwar geht Pauline Duley-Haour immer wieder auf großpolitische Entwicklungen in Europa ein. Die Konflikte der Kirchen des Refuge untereinander bzw. lokal vor Ort, mit den Obrigkeiten der Aufnahmeländer, Aufnahmestopps bzw. die Politik von Ländern des Refuge, einen Teil der aufgenommenen Hugenotten wieder los werden zu wollen, die Frage, ob man gerade deshalb die Geheimkirchen in Frankreich brauche, kommen jedoch zu kurz. Dies ist umso erstaunlicher, als zu Teilen der hugenottischen Internationale in den letzten Jahren einschlägige Arbeiten publiziert wurden [3], die von der Autorin ebenso wenig wie Lionel Labories Studie (s.o.) zur Kenntnis genommen wurden, obwohl dies auf faktischer und analytischer Ebene notwendig gewesen wäre.


Anmerkungen:

[1] Hierzu v.a. Lionel Laborie: Enlightening Enthusiasm. Prophecy and Religious Experience in Early Eighteenth-Century England, Manchester 2015.

[2] Als Alberoni-Affäre wird der Plan u.a. des spanischen Kardinal Giulio Alberoni (1664-1752) bezeichnet, den Regenten von Frankreich, den Herzog von Orleans, 1718 gefangen zu nehmen, und König Philipp V. von Spanien zum Vormund Ludwigs XV. zu machen. Den protestantischen Geheimkirchen in Frankreich wurde unterstellt, diese Pläne Alberonis zu unterstützen.

[3] U.a. David van der Linden: Experiencing Exile. Huguenot Refugees in the Dutch Republic 1680-1700, Farnham 2015; Susanne Lachenicht: Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/Main, New York 2010; David E. Lambert: The Protestant International and the Huguenot Migration to Virginia, Brüssel 2010; Bertrand van Ruymbeke: From New Babylon to Eden. The Huguenots and their Migration to Colonial South Carolina, Columbia 2006.

Susanne Lachenicht