Stefan Scholl (Hg.): Körperführung. Historische Perspektiven auf das Verhältnis von Biopolitik und Sport, Frankfurt/M.: Campus 2018, 335 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-50843-6, EUR 39,95
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Michel Foucaults Konzept der Biopolitik hat, bezogen auf die historischen Disziplinen, bisher vor allem wissens-, geschlechter- und medizingeschichtliche Forschungen angeregt. Der vorliegende Band will ihm mit der Sportgeschichte ein neues Feld eröffnen. Schließlich war und ist der Sport genau dem verpflichtet, was nach Foucault "Biopolitik" ausmacht: Erhalt, Förderung und Steigerung des Lebens, der Gesundheit, Reproduktions- und Leistungsfähigkeit des Einzelnen wie der Bevölkerung. Diese Ziele sollen durch äußere Vorgaben, aber auch durch "Selbstführung" erreicht werden - das Sport treibende Individuum strebt aus eigenem Antrieb die Verbesserung all seiner körperbezogenen Werte und Fähigkeiten an.
Die Beiträge des Bandes sind weitgehend aus einem interdisziplinären Workshop (Geschichte, Medizingeschichte und Sportwissenschaft) an der Universität Siegen vom Oktober 2016 hervorgegangen. Nachträglich eingeworben wurden die Aufsätze von Michael Hau (Melbourne) und Olaf Stieglitz (Köln). Thematisch abgedeckt wird der Zeitraum vom späten 19. Jahrhundert, als der moderne Wettkampfsport auch außerhalb der angelsächsischen Länder Platz zu greifen begann, bis zur unmittelbaren Gegenwart - der Beitrag der Sportsoziologin Sandra Günter (Hannover) über "Dopingpolitik und Biomacht" bezieht sogar noch die Olympischen Winterspiele im südkoreanischen Pyeongchang vom Februar 2018 mit ein. Doping als Mittel zur Leistungssteigerung, das nicht nur die Regeln des fairen Wettbewerbs verletzt, sondern auch die Gesundheit gefährdet, behandelt auch der Aufsatz von Lukas Rehmann über die Sportmedizin in der DDR. In diesem Land gab es aber nicht nur systemkonformes Handeln, sondern auch Sporttreibende, die eine normabweichende sportliche Praxis betrieben, für deren Charakterisierung sich Foucaults Begriff der "Ästhetik der Existenz" anbietet. Das demonstriert Kai Reinhart (Münster), der die Ergebnisse seiner 2010 veröffentlichten Dissertation noch einmal aufgreift, am Beispiel des Bergsteigens in der Sächsischen Schweiz und des Skatens in den Großstädten der DDR, vor allem in Ostberlin.
Die andere deutsche Diktatur des 20. Jahrhunderts, den NS-Staat, thematisieren zwei Beiträge, die nach Formen des Leistungsmanagements bei Sport und Arbeit fragen (Hau und Diana Wendland, Köln). Mit Dekadenzdiskursen in England um 1900 befasst sich Angela Schwarz (Siegen), die vor allem das Problem zeitgenössischer Gesundheitsaktivisten herausstellt, aus begeisterten Sportkonsumenten auch Sporttreibende zu machen. Stieglitz untersucht am Beispiel des "Medienmoguls" und Sportenthusiasten Bernarr Mcfadden, der u.a. seit 1899 das Magazin "Physical Culture" herausgab, wie sich der Sport in den USA der 1920er-Jahre aus einer Tätigkeit für junge Menschen in eine Aufgabe für alle Generationen verwandelte. Versuche zur sportlichen Aktivierung der gesamten Bevölkerung in westlichen Staaten von 1960 bis 1990 sind Gegenstand der Aufsätze von Rudolf Müllner (Wien), Stefan Scholl (Siegen / Köln), Pierre Pfütsch (Mannheim) und Melanie Woitas (Erfurt), wobei jeweils der Begriff der Fitness, der zur Gesundheit und Leistungsfähigkeit noch das attraktive Aussehen hinzufügt, eine zentrale Rolle spielt.
Die Mehrzahl der Beiträge präsentiert interessante Sachverhalte und bisher wenig beachtete Quellen, was den Band ohne Frage lesenswert macht. Trotzdem ist der Rezensent am Schluss enttäuscht. Das hängt vor allem mit der Form zusammen, in der Foucaults Konzept der Biopolitik adaptiert wird.
Erstens fällt auf, dass die grundlegende Argumentationsstruktur, die eine "Kultur der Verbesserung" als Resultat von Fremd- und Selbstführung beschreibt, in allen Aufsätzen fast identisch ist. Dabei behandelt der Band einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren und so unterschiedliche politische Systeme wie die westlichen Demokratien auf der einen, das nationalsozialistische Deutschland und Ostblockstaaten wie die DDR auf der anderen Seite. Die spezifischen politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen, die das biopolitische Handeln jeweils prägten, hätten viel deutlicher herausgearbeitet werden müssen. Nur der Aufsatz von Reinhart lässt sich hierauf ein. Nicht von ungefähr, so hat man den Eindruck, verzichtet Herausgeber Scholl darauf, den Band durch die Einteilung der Aufsätze in Rubriken zu gliedern, sondern reiht die Beiträge einfach aneinander - eine Gliederung ist überflüssig, um es zugespitzt zu formulieren, wenn man ohnehin im Kern überall dasselbe liest. Es kann aber nicht die Konsequenz der Aneignung von Denkfiguren Foucaults sein, die gesamte politisch-soziale Realität des 20. und frühen 21. Jahrhunderts in eine Nacht zu tauchen, in der alle Katzen grau sind.
Zweitens wird Biopolitik im vorliegenden Band in sehr einseitiger Weise mit der Verbesserung von Leistungsfähigkeit, Gesundheit und physischer Wohlgestalt in Verbindung gebracht - als Projekt der Arbeit am individuellen und kollektiven Körper. Dieses Themenfeld ist auch in der Vergangenheit schon gründlich erforscht worden, und es sind wichtige Erkenntnisse gewonnen worden, auch ohne Foucaults Theorie heranzuziehen. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert gewesen, das thematische Spektrum zu erweitern. Schließlich hat die Konstruktion von "Normalität" in Foucaults Denken eine Schlüsselrolle inne. Solch eine Normalität hat der Sport im Hinblick auf den leistungsfähigen Körper immer auch in Abgrenzung von "Behinderungen" entworfen. Die "disability studies" widmen diesem Aspekt seit einigen Jahren viel Aufmerksamkeit. Außerdem hat der Sport stets dazu beigetragen, eine binäre Geschlechterordnung mit einer klaren Mann-Frau-Dichotomie zu etablieren und zu stabilisieren. Die Debatte um Transgender-Athleten im Sport, ja die gesamtgesellschaftliche Diskussion um ein "drittes Geschlecht" macht deutlich, dass auch solche Phänomene mit Effekten von Biomacht verknüpft sind, sei es auf der Ebene von politisch-administrativen Setzungen, sei es auf der Ebene von Mikrophysiken der Macht, die Psyche und Physis jedes einzelnen durchdringen. Auch hier existiert ein großes Potenzial, das der vorliegende Band leider ungenutzt lässt.
Frank Becker