Maria Gierlak / Małgorzata Klentak-Zabłocka / Thorsten Unger (Hgg.): Literarische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Regionen Mitteleuropas (= Warschauer Studien zur Kultur- und Literaturwissenschaft; Bd. 9), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2017, 292 S., ISBN 978-3-631-66581-7, EUR 59,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Gleich zu Beginn des Sammelbandes, der aus einer Tagung an der Universität Thorn (Toruń) hervorgegangen ist, heben die Herausgeber den Unterschied in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg zwischen den Verliererstaaten Deutschland und Österreich auf der einen und den infolge des Krieges wieder- oder neugegründeten Staaten Südost- und Ostmitteleuropas auf der anderen Seite hervor. In letzteren wurde der Krieg bis 1939 und erneut nach 1989 nicht als Katastrophe, sondern als Katalysator für die eigene Staatsbildung erinnert. In diesem Teil Europas trafen die Kriegspropaganda und -maschinerie der Mittelmächte auf das Selbstverständnis von Nationen, die während des Krieges ihre politischen Interessen zunehmend selbstbewusster artikulierten.
Mit den Bezügen zwischen der (kolonisierenden) Metropole und der Peripherie, die 1914-1918 zu einem zentralen Kriegsschauplatz wurde, beschäftigen sich die meisten Beiträge im ersten Abschnitt "Regionen in Mitteleuropa". Die Dynamik der deutsch-polnischen Beziehungen in Thorn, damals eine Festungsstadt an der Grenze zum Russischen Reich, dokumentiert sehr quellennah Maria Adamiak. Jens Stüben stellt die These auf, dass die Kriegsdichtung, die im August 1914 in der Königsberger Hartungschen Zeitung erschien, die "verstärkte Herausbildung einer regionalen ostpreußischen Identität" (64) begleitet habe. In einer vergleichenden Interpretation der Romane Einsetzung eines Königs von Arnold Zweig und Der Oberst. Die Affäre Mjassojedew von Józef Mackiewicz, deren Schauplätze das Gebiet des heutigen Litauens und Teile Nord-Ost-Polens bildet, zeigt Monika Tokarzewska, dass diese beiden Schriftsteller den Ersten Weltkrieg auf sehr unterschiedliche Weise als den Beginn einer tiefen europäischen Krise ansahen. Während Zweig als Sozialist seine Hoffnungen auf Sowjetrussland richtete, erkannte Mackiewicz in der Politik dieses Staates eine Bedrohung für die westliche Kultur. Miroslav Krleža verband laut Katarzyna Szczerbowska-Prusevisius das Erzählen vom Ersten Weltkrieg mit einer Thematisierung der sozialen Lage kroatischer Bauern, für die der Krieg "nur eine von vielen Katastrophen" (95) gewesen sei, die sie im Laufe der achthundertjährigen Abhängigkeit von Ungarn und Österreich erlebten.
Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes beschäftigen sich mit literarischen und publizistischen Texten, die das Verhältnis von Juden, Deutschen und Polen während des Ersten Weltkriegs vor allem in Osteuropa thematisieren. Das Bild von Polen und Juden in Fritz Wertheimers Reportagen Im polnischen Winterfeldzug mit der Armee Mackensen (1915) sowie Hermann Strucks und Herbert Eulenbergs Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland (1916) setzt Iwona Kotelnicka in Beziehung einerseits zu überlieferten Kulturstereotypen und andererseits zur deutschen Okkupationspolitik, mit der versucht wurde, Juden, Polen und Balten in den Russland abgenommenen Gebieten als Verbündete für die deutschen Kriegsziele zu gewinnen. Karol Sauerland reflektiert das Verhältnis zwischen der Politik der Mittelmächte und den im Osten Europas lebenden Ethnien und Völkern vor einem weit gespannten geschichtlichen Horizont sowie mit Verweisen auf Józef Wittlins Salz der Erde und Sammy Gronemanns Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916-1918. Ebenfalls auf den osteuropäischen Raum bezieht sich der Beitrag von Armin Eidherr, der sehr textnah die Reaktionen der in Lemberg geborenen jiddischen Schriftsteller Abraham Mosche Fuchs und Uri Zvi Grinberg auf den Ersten Weltkrieg untersucht. Thorsten Unger liest Ernst Tollers Drama Die Wandlung mit Blick auf die "Zerschlagung der Integrationshoffnung" (177), die der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bei deutschen Juden geweckt habe.
So wie dieser Aufsatz erweitern die Beiträge im dritten Teil des Sammelbandes unter der Überschrift "Narrationen zwischen allgemeinem und individuellem Kriegserlebnis" die Interpretationen bekannter Werke, wie etwa Thomas Manns Der Zauberberg, um teils wichtige Nuancen. Völlig neues Terrain erkundet Tomasz Waszak mit einer Untersuchung der literarischen Anspielungen auf den Ersten Weltkrieg bei Gustav Meyrink, die er zu dessen okkultistischem Weltbild in Beziehung setzt. Wie vor allem dieser letzte Teil zeigt, fehlt es den Aufsätzen dieses Bandes etwas an Stringenz: Bei manchen Beiträgen zur literarischen Erinnerung an den Krieg hätte man sich eine stärkere Konzentration auf das Regionale und bei einigen Beträgen mit regionaler Perspektive (etwa in Dagmar Endes lesenswerter Studie zu zwei in Magdeburg spielenden Familienromanen) eine deutlichere Fokussierung auf den Ersten Weltkrieg gewünscht. Dennoch bereichert die Publikation die Forschungen zur literarischen Repräsentation des Ersten Weltkriegs, indem sie die Spezifik der Region Südost- und vor allem Ostmitteleuropa stärker in den Blick rückt.
Marion Brandt