Carl Wege: "Das Neue Europa" 1933-1945. Deutsche Denkmuster des Europäischen, Fellbach: Edition Axel Menges 2016, 135 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-936681-95-6, EUR 39,00
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Das hier zu besprechende, schmale, aber großformatige Buch, das die eigentlich auf Architektur, Kunst, Design und Film spezialisierte Edition Axel Menges auch in englischer Übersetzung herausgebracht hat, verfolgt nicht das Ziel, "deutsche Denkmuster des Europäischen" in der NS-Zeit erschöpfend zu untersuchen. Vielmehr konzentriert sich der Autor auf eine Analyse der Texte von sieben Autoren und einer Autorin, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland journalistisch oder schriftstellerisch tätig waren: Margret Boveri, Ernst Wilhelm Eschmann, Gustav R. Hocke, Walther Kiaulehn, Karl Korn, Friedrich Sieburg, Egon Vietta und Giselher Wirsing. Die Auswahl wird damit begründet, dass sich in Publikationen dieser Autorinnen und Autoren ein deutlicher Europa-Bezug erkennen lasse und sie sich zeitweilig im europäischen Ausland aufgehalten oder sich von Deutschland aus mit "Auslandsfragen" befasst hätten. Publizieren konnten sie "weitgehend ungehindert" oder sogar "mit Unterstützung maßgeblicher Stellen des NS-Regimes" (21 f.). Wie Wege selbst andeutet, hätten aber leicht noch andere Autorinnen und Autoren in die Analyse einbezogen werden können. Die untersuchten Texte umfassen Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, Essays und Monographien; Belletristik ist vertreten, auch Sachbücher und Reiseberichte finden sich. Viele der Aufsätze sind in auflagenstarken Zeitschriften wie "Das Reich" oder "Signal" erschienen, die prominente, in der Forschung bereits bekannte Foren des nationalsozialistischen Europadiskurses und Multiplikatoren der nationalsozialistischen Europapropaganda waren [1].
Die Kernthese des Buchs lautet, dass im untersuchten Diskurs zwischen 1933 und 1945 "die 'europäischen Werte' neu erfunden oder auch völkisch-nationale Interpretationsmuster aus der Zeit vor 1933 fortgeschrieben" worden seien (17). Um diese These zu untermauern, richtet Wege eine Reihe von Fragen an seine Quellen, von denen drei besonders herausstechen: Erstens fragt er, wo von den acht genannten Autorinnen und Autoren mit welchen Argumenten die Grenzen Europas gezogen wurden. Das ist besonders instruktiv für die Fälle, in denen sie argumentierten, einzelne Länder, die früher europäisch gewesen seien, seien es nun nicht mehr (Großbritannien und "Russland" bzw. die Sowjetunion). Auch kartographische Darstellungen zeigten in den letzten Jahren des NS-Regimes den europäischen Kontinent ohne Großbritannien. Umgekehrt präsentierten einige der untersuchten Quellen Europa, Afrika und den Nahen Osten (inklusive Persien bzw. Iran), also die gesamte Mittelmeerregion, "als einheitlichen und zusammenhängenden Raum", mitunter Europa und Afrika gar als "Doppelkontinent" (41 f.). Dazu verwiesen sie auf die vermeintliche gemeinsame "arische" Abstammung von Europäern und Iranern (die Länderbezeichnung Iran, also "Land der Arier", wurde aus diesem Grund gegenüber Persien bevorzugt) oder auf die vermeintlich "nordische" Herkunft von Nordafrikanern. Auch die Türkei zählte einigen zum "Neuen Europa", nachdem sie 1941 einen Freundschaftsvertrag mit dem Deutschen Reich geschlossen hatte (64 ff.).
Zweitens interessiert sich Wege dafür, wie in Publikationen der acht Autorinnen und Autoren über die Haltung Europas zur Moderne räsoniert wurde. Er findet in mehreren Texten einen "spezifisch europäischen Weg in eine andere Moderne" skizziert, die sich insbesondere von der "radikalen Moderne amerikanischen Typs" unterscheiden sollte (52 f.). In diesen Texten wurde eine Entwicklung kritisiert, wie sie sich in den USA beobachten ließe, die mit Traditionen sowie gewachsenen Strukturen völlig breche. Die erwünschte "andere", "gemäßigte" Moderne (54) überwinde dagegen den Gegensatz zwischen Alt und Neu, zwischen Antike und Gegenwart, zwischen Mythos und Technik.
Drittens untersucht Wege, wie die acht Autorinnen und Autoren die europäische Geographie mit Bedeutung aufluden. Insbesondere auf die Konstruktionen eines "Nordens" und eines "Südens" Europas wurden Stereotype projiziert. So galt der "Norden" als hart und stark, tüchtig und tatkräftig, streb- und arbeitsam, sachlich, genau, pflichtbewusst etc., der "Süden" als weich, genießerisch bzw. zum Kunst- und Lebensgenuss fähig, verträumt, heiter, human, launisch, anarchisch etc. Bisweilen werden diese Stereotype auch den beiden Städten Berlin und Paris angeheftet. Das "Neue Europa" sei das Europa des Nordens mit Berlin als Mittelpunkt. Die Länder im Süden sowie Frankreich müssten sich "grundlegend erneuern", um ihren Platz im "Neuen Europa" zu finden (74 f.).
Insgesamt arbeitet Wege ein vielschichtiges Bild Europas aus den von ihm untersuchten Texten heraus. Er versucht, verbindende Elemente verschiedener Beiträge zum Europadiskurs zu identifizieren, ist aber auch aufmerksam für Differenzen, etwa wenn er das konstruktivistische Europaverständnis einiger Akteure vom essentialistischen Europaverständnis anderer abgrenzt (15). Das Buch zeigt, wie weit verzweigt der von deutschen Journalistinnen und Journalisten sowie Schriftstellerinnen und Schriftstellern zwischen 1933 und 1945 geführte Europadiskurs war. Er deutet an, dass der von ihm untersuchte publizistische Europadiskurs [2] der insbesondere nach der Schlacht um Stalingrad forcierten Europapropaganda der Nationalsozialisten Stoff lieferte, diese Propaganda also gewissermaßen vorbereitete (22). Nur an wenigen Stellen fragt Wege aber nach dem Zusammenhang der eher peripheren Texte, die er analysiert, mit "offiziellen" nationalsozialistischen Europakonzepten. Nur beiläufig wird beispielsweise im Zusammenhang mit der Analyse der rassistischen Gleichsetzung von Europäern mit "Ariern" Alfred Rosenberg erwähnt. Weges Vermutung, dass es in Deutschland zwischen 1933 und 1945 keinen politischen Europadiskurs gegeben habe, zumindest nicht innerhalb der "NS-Führung" (22), muss man mit Verweis auf neue Forschungsarbeiten, die ergänzend zu Weges instruktiver Analyse zur rezipieren wären, widersprechen [3].
Unscharf bleibt, inwiefern es sich bei den analysierten "Denkmustern des Europäischen" um "deutsche" Denkmuster handelte. In welchem Bezug stand der deutsche Diskurs zum Diskurs in anderen Ländern? Ließe sich vielleicht von nationalsozialistischen, faschistischen oder völkischen Denkmustern sprechen? Etwas störend ist, dass Quellen häufig im Indikativ referiert werden. Das erfordert Aufmerksamkeit bei der Lektüre der lesenswerten, anregenden Studie.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Rainer Rutz: Signal. Eine deutsche Auslandsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg, Essen 2007.
[2] Sehr instruktiv dazu auch der von Wege nicht angeführte Sammelband: Michel Grunewald (éd.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), Bern u.a. 1999.
[3] Nicht mehr ganz aktuell ist der Überblick von Iris Schröder: Europa im Zeichen des Hakenkreuzes: Historiographische Perspektiven im Wandel. Ein Kommentar, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012), H. 3, Online-Ausgabe, http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2012/id=4696 (25.08.2018). Wege folgt der in Teilen überholten Sichtweise von Paul Kluke: Nationalsozialistische Europaideologie, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), 240-275. Vgl. jetzt auch Johannes Dafinger / Dieter Pohl (eds.): A New Nationalist Europe Under Hitler. Concepts of Europe and Transnational Networks in the National Socialist Sphere of Influence, 1933-1945, London / New York 2019.
Johannes Dafinger