Nico Wouters: Mayoral Collaboration under Nazi Occupation in Belgium, the Netherlands and France, 1938-46, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016, XII + 250 S., ISBN 978-3-319-32840-9, EUR 84,99
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Jeremy Hicks: First Films of the Holocaust. Soviet Cinema and the Genocide of the Jews, 1938-1946, Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2012
Angelika Benz: Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust, Berlin: Metropol 2015
Die Kollaboration der Besatzer mit der einheimischen Bevölkerung ging nicht an einem intensiven Austausch mit den Bürgermeistern vorbei. Bürgermeister repräsentierten die lokale Bevölkerung und leiteten die Stadtverwaltung. Sie erfüllten eine wichtige Rolle im Holocaust, bei der Rekrutierung von Zwangsarbeitern und vielen anderen kriegsbedingten Projekten, selbst wenn sie die Besatzung ihrer Länder durch die Nationalsozialisten als illegitim verstanden und absolut dagegen waren. Nico Wouters spürt in seiner vergleichenden Studie den Bürgermeistern in Belgien, Niederlanden und Nordfrankreich nach und zeigt, was das Verhalten dieser Gruppe von Beamten während der Besatzung und der Schoah beeinflusste, wer sie eigentlich waren und wie sie mit den Deutschen kollaborierten bzw. Aspekte ihrer Politik boykottierten.
Wouters' Studie zeigt, dass das Verhalten von Bürgermeistern durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst wurde. Belgien, Frankreich und die Niederlande hatten unterschiedliche Verwaltungsstrukturen und -kulturen, deren Ursprünge im 19. Jahrhundert lagen. Während Belgien stark dezentralisiert war, die Bürgermeister vor Ort gewählt wurden und lokale Interessen vertraten, so wurden sie in den Niederlanden von der Regierung eingesetzt, für die sie die politische Situation kontrollierten und deren Interessen sie vertraten.
Ebenso großen Einfluss auf das Handeln der Bürgermeister in Belgien, Frankreich und den Niederlanden hatte die Art der Besatzung, die von den Deutschen etabliert wurde. Die Niederlande wurden zu einem Reichskommissariat erklärt, das zuerst gleichgeschaltet und später an das Deutsche Reich angeschlossen werden sollte, während in Belgien und Nordfrankreich eine Militärverwaltung installiert wurde. Der Sicherheitsapparat war in den Niederlanden stärker ausgebaut und übte eine größere Kontrolle über die Bevölkerung und Verwaltung als in Belgien und Nordfrankreich aus. Auf den größten Widerstand stieß die Faschisierung der Verwaltung in Nordfrankreich, wo sozialistische Bürgermeister teilweise bis 1943 im Amt blieben.
Aus verschiedenen Gründen war die deutsche Herrschaft in den Niederlanden in allen Bereichen des öffentlichen Lebens spürbarer als in Belgien und Nordfrankreich. Im Gegensatz zu belgischen und nordfranzösischen Beamten mussten ihre niederländischen Kollegen einen Eid der Loyalität auf Deutschland leisten. Die Besatzer waren mit dem dezentralisierten Verwaltungssystem in Belgien unzufrieden, weil es die Kontrolle der Gesellschaft erschwerte. Um dem vorzubeugen, führten sie das Führerprinzip ein und zogen die Bürgermeister ähnlich wie in Nordfrankreich direkt zur Verantwortung, wenn ihre Verordnungen nicht umgesetzt wurden. Demgegenüber musste in den Niederlanden der Verwaltungsapparat kaum angepasst werden, weil er den nationalsozialistischen Standards bereits ähnelte. Anders als in Belgien und Nordfrankreich, wo viele Bürgermeister flüchteten bzw. nicht mit den Nationalsozialisten arbeiten wollten, wurden in den Niederlanden nur zwei Bürgermeister entlassen: einer, weil er eine patriotische Rede gehalten hatte, ein anderer, weil er den Deutschen eine Liste mit jüdischen Läden und Kneipen verweigerte.
Bürgermeister und lokale Verwaltungen waren für die Besatzer unter anderem deshalb wichtig, um die Situation vor Ort zu kontrollieren und Informationen über die Feinde des Regimes oder den Widerstand zu sammeln. Diese Aufgabe stellte viele Bürgermeister vor das Dilemma zu entscheiden, wann ihre Tätigkeit in eine Form der Kollaboration überging, die der Stadtbevölkerung schadete und sie zu Kriminellen oder "Verrätern" machte. Wouters zeigt, dass nicht-faschistische Bürgermeister zurückhaltender waren, die Bitten und Befehle der Deutschen zu erfüllen, als ihre faschistischen Kollegen.
Bürgermeister nutzten die deutsche Besatzung, um ihre Position zu stärken, sich in den Verwaltungsstrukturen zu behaupten oder ihre eigene Macht von der Besatzungsherrschaft abzuleiten. Nicht selten setzten Bürgermeister ihre persönlichen oder politischen Feinde sowie "asoziale" und "arme" Elemente auf die Deportationslisten. Während einige Bürgermeister den Widerstand unterstützten, gerieten andere - vor allem faschistische Amtsinhaber - in Konflikt mit Lehrern oder Priestern, die ihre Werte nicht teilten und den deutschen Besatzern kritisch gegenüberstanden.
Die Unterstützung der Deutschen bei der Schoah gehörte ebenso zu den Aufgaben der Bürgermeister, auch wenn diese sehr unterschiedlich an diese Aufgabe herangingen. Aus den drei besetzten Ländern wurden unterschiedlich viele Juden deportiert, was unter anderem auf die Rolle der Bürgermeister und der Stadtverwaltungen zurückzuführen ist. Bürgermeister wurden in die Judenverfolgung einbezogen, weil die SS Listen, Infrastruktur und Hilfe bei der Koordination der Deportationen brauchte. Wenn in den Niederlanden die Verwaltung auf die Deportationen und andere antijüdische Maßnahmen grundsätzlich offen reagierte und sie als eine wichtige Aufgabe verstand, so argumentierten Bürgermeister in Belgien, dass die Kennzeichnung der Juden oder ihre Deportationen nicht umgesetzt werden könnten, weil dies gegen die Verfassung verstoße, die die Gleichberechtigung aller Bürger garantierte. Um Bürgermeister zur Kollaboration zu ermutigen, etablierten die leitenden Verwaltungsorgane in Belgien den Diskurs über die "passive Kollaboration". Beamten, die sich daran beteiligten, seien nur Opfer des Systems und keine Täter gewesen. Sie handelten, weil sie von den Besatzern dazu gezwungen worden seien und nicht, weil sie es wollten.
Auch der Verlauf des Krieges wirkte sich auf das Verhalten der Bürgermeister aus. Besonders seit Frühjahr 1943, als klar war, dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen würde, änderte sich die Stimmung in den untersuchten Ländern. Nur faschistische Bürgermeister waren davon kaum betroffen und unterstützten die Besatzer in der Regel bis zum Ende.
Ein langer und sehr interessanter Abschnitt der Studie ist den Faschisten in der Verwaltung gewidmet. Wouters zeigt, welche Rolle sie in den Verwaltungen spielten und wie sich die Beziehungen zwischen ihnen, den Nationalsozialisten und dem Rest der Bevölkerung gestalteten. Wenn in den Niederlanden die NSB (Nationaal-Socialistische Beweging) wirkte, die 1936 55 000 Mitglieder zählte und von acht Prozent der Stimmberechtigten gewählt wurde, wirkten in Belgien die wallonischen Rexisten und die flämische VNV (Vlaamsch Nationaal Verbond). Alle drei Organisationen begrüßten die nationalsozialistischen Besatzer enthusiastisch und wurden allesamt enttäuscht, als sie merkten, dass die Deutschen ihnen nicht erlaubten, ihre national-faschistischen Programme umzusetzen. Da ihnen die politische Ebene versperrt war, versuchten sie, zumindest auf der Ebene der Verwaltung aktiv zu werden. Ihre Zahl stieg rasant, zumal vor dem Krieg kaum Faschisten diese Ämter bekleideten. In Belgien amtierten 1943 bereits 478 VNV-Bürgermeister und 712 VNV-Ratsherren. Im wallonischen Teil des Landes war jeder achte Bürgermeister ein Rexist. Viel zu wünschen übrig ließ jedoch die Qualität faschistischer Bürgermeister, weil sie vor dem Krieg kaum Erfahrung in der Verwaltung hatten machen können. Da kaum passende Kandidaten zur Verfügung standen, organisierten die Parteien während der Besatzung provisorische Kurse für die Bürgermeister, die trotz des niedrigen Niveaus nur von wenigen bestanden wurden. Darüber hinaus scheiterte die NSB wegen interner Konflikte, die typisch für faschistische Bewegungen sowohl in West- als auch Osteuropa waren. Einige faschistische Bürgermeister verließen die Bewegung unter dem Einfluss ihrer nicht-faschistischen Mitarbeiter oder der lokalen Bevölkerung, die den Faschismus in erster Linie als eine Eigenschaft der Deutschen verstanden. Im Verlauf der Besatzung, als immer mehr faschistische Bürgermeister ihren Aufgaben nicht gewachsen waren und der Einfluss des Faschismus insgesamt schrumpfte, kamen Faschisten in Belgien und den Niederlanden zu der Überzeugung, dass nicht die Partei, sondern das Volk scheiterte.
Die Abrechnung mit der Kollaboration unterschied sich sowohl in den untersuchten Ländern als auch in den individuellen Fällen. Wenn VNV-Bürgermeister ihre Einstellung zum deutschen Nationalsozialismus in der Regel nach dem Krieg veränderten, verteidigten ihre NSB-Kollegen ihren Einsatz für das Deutsche Reich. Unter allen Bürgermeistern war die Argumentation verbreitet, dass sie dem Vaterland und nicht den Nationalsozialisten gedient hätten, nur im Interesse der lokalen Bevölkerung gehandelt hätten oder der Königin bis Ende treu geblieben seien.
Nur ein Aspekt in Wouters Studie überzeugt nicht ganz. Wouters bezieht den Begriff Kollaboration nur auf faschistische Bürgermeister, weil sie sich ideologisch mit den Besatzern identifizierten und ihnen gegenüber bis zum Ende loyal waren. Andere Bürgermeister werden als "nicht-kollaborierende" Beamte dargestellt, obwohl sie mit den Besatzern ähnlich wie ihre faschistischen Kollegen zusammenarbeiteten und sie bei der Umsetzung verschiedenster Aufgaben unterstützten.
Nico Wouters hat eine instruktive Studie über ein Thema der Besatzung verfasst, das zwar wichtig ist, aber bis heute auf wenig Interesse in der Forschung stößt. Sein Buch könnte auch für deutsche Historiker interessant sein, weil es das für das Verständnis der Besatzung zentrale Thema der Kollaboration und des Faschismus in der Verwaltung behandelt. Dadurch leistet es einen Beitrag zur Komplexität der Holocaust- und Faschismusforschung und trägt auch zu einer transnationalen Aufarbeitung der Schoah bei.
Grzegorz Rossoliński-Liebe