Markus Apostolow: Der »immerwährende Staatssekretär«. Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz 1949-1963 (= Die Rosenburg. Schriften zur Geschichte des BMJ und der Justiz in der frühen Bundesrepublik; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 366 S., ISBN 978-3-525-35694-4, EUR 60,00
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Die mediale Aufmerksamkeit in Deutschland beim Erscheinen der Studie "Die Akte Rosenburg" 2016 war groß. Dadurch wurde bekannt, dass 53 Prozent der untersuchten Mitarbeiter des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) zwischen 1949 und 1973 vormals der NSDAP angehört hatten. [1] Eine Erklärung für diese Einstellungspraxis lieferten die Autoren, Manfred Görtemaker und Christoph Safferling. Dem ersten Bundesminister der Justiz nach 1949, Thomas Dehler, und seinem Staatssekretär Walter Strauß sei es in erster Linie um die Herstellung der Arbeitsfähigkeit des Ministeriums gegangen. Die "fachliche Kompetenz und Erfahrung" seien für beide bei Personalentscheidungen ausschlaggebend gewesen. Die NS-Belastung des Personals sei zwar innerhalb des Ministeriums wiederholt thematisiert worden, jedoch selten ein Grund gewesen, einen Beamten nicht einzustellen.
Nun ergänzt und vertieft das Buch über Walter Strauß und die Personalpolitik im BMJ dieses Thema weiter. Markus Apostolow leistete bereits einen Forschungsbeitrag zur Studie "Die Akte Rosenburg". Die Arbeit geht aus seiner 2018 bei Manfred Görtemaker an der Universität Potsdam abgeschlossenen Dissertation hervor. Als erster Band einer neuen Reihe stellt es eine Fortsetzung des Rosenburg-Projekts dar.
Walter Strauß prägte als Staatssekretär zwischen 1949 und 1963 wie kein anderer die Personalpolitik des BMJ. Während seiner Amtszeit erlebte er insgesamt fünf Bundesminister der Justiz. Im Gegensatz dazu verkörperte der "immerwährende Staatssekretär" die Kontinuität im Ministerium.
Apostolow interessiert sich besonders für "das konkrete Ausmaß des Einflusses von Strauß auf die Auswahl und Beförderung der höheren Beamten des BMJ" (10). Diesen Fokus begründet der Autor damit, dass mit diesen Personen die Positionen mit erheblicher Verantwortung im BMJ verbunden waren. Grundlegend ist die These, dass Erklärungsfaktoren für Strauß' Personalpolitik aus seiner Biographie hervorgehen. So zeigt der Autor immer wieder, wie Strauß' Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem "Dritten Reich" mit seiner Vorstellung vom Berufsbeamtentum, seinen Anforderungen an das Personal sowie seinen Auswahlkriterien nach 1949 verknüpft waren. Dafür konnte Apostolow nicht zuletzt auf den umfangreichen Nachlass von Strauß im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte zurückgreifen. Außerdem verfügte er in Bezug auf die Biographien der Beamten des höheren Dienstes über Personalakten, die erst im Rahmen des "Rosenburg-Projekts" für die Forschung erschlossen wurden.
Die chronologisch angelegte Studie gliedert sich nach einer relativ kurzen Einleitung in drei Hauptteile. Sie beginnt mit einer Analyse der Rolle Strauß' beim Aufbau des BMJ zwischen 1949 und 1953. Hier zeigt Apostolow, wie und unter welchen Rahmenbedingungen das Personal von Strauß angeworben wurde. Im zweiten Teil wird der "Einzug der Normalität" bis 1961 dargelegt. Strauß blieb in dieser Phase der wichtigste Akteur, auch wenn die Abteilungsleiter mehr personalpolitische Aufgaben übernahmen. Im dritten Teil thematisiert der Autor die personalpolitischen Umstände zum Ende der Amtszeit von Strauß 1963. Obwohl sein Einfluss in dieser Phase abnahm, behielt er sich selbst immer noch die wichtigsten Personalentscheidungen vor.
Einer der interessantesten Befunde ist, dass Strauß die Einstellung sowohl von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern als auch von politisch Verfolgten aktiv anstrebte. Da er und seine Familie während der NS-Zeit selbst politischer Verfolgung ausgesetzt waren, hätte der Staatssekretär viele Gründe gehabt, die Einstellung ehemaliger NSDAP-Mitglieder nach 1945 zu vermeiden. Doch Strauß handelte anders, wie der Fall des BMJ-Referatsleiters Franz Massfeller zeigt. Er war im "Dritten Reich" im Reichsjustizministerium für Familien- und Rasserecht zuständig gewesen und hatte an zwei Besprechungen der Wannsee-Konferenz teilgenommen. Strauß relativierte jedoch Massfellers NS-Belastung gegenüber Kollegen, ja schützte ihn sogar gegen Angriffe von außen. Nach eigener Aussage verfolgte Strauß das Ziel, im BMJ einen "Gemeinschaftsgeist" zwischen "Parteigenossen" und "Nicht-Parteigenossen" zu entwickeln.
Überzeugend ist, dass Apostolow Strauß' Personalpolitik exemplarisch an den konkreten Biographien höherer Beamter nachzeichnet. Die Lebensläufe der jeweiligen Beamten bis zu ihrer Einstellung ins BMJ sind detailliert recherchiert. Außerdem leuchtet es ein, dass er die Analyse der Personalpolitik nicht auf den Umgang mit NS-Belasteten reduziert hat. Die Personalpolitik wird in ihren unterschiedlichen Facetten - von Netzwerken, politischer Überprüfung, Konfessionszugehörigkeit bis zur parteipolitischen Bindung und landsmannschaftlicher Herkunft - dargestellt. Apostolows Studie ermöglicht darüber hinaus einen institutionenübergreifenden Einblick in die Personalpraxis der gesamten Bundesministerialverwaltung nach 1949. Er geht ausführlich auf die Beziehungen zwischen dem BMJ, dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium der Finanzen, dem Bundesministerium des Innern sowie dem Bundespersonalausschuss ein.
Dennoch weist Apostolows Ansatz einige Probleme auf: Die sehr ausführliche Auflistung biographischer Daten machen das Buch insgesamt eher deskriptiv und weniger analytisch. Zudem fragt der Autor weder nach dem Zusammenhang zwischen Lebenswegen und juristischer Sachpolitik noch nach der Auswirkung von NS-Belastung auf die Verwaltungskultur und -praxis. Dazu haben in den letzten Jahren bereits andere Behördenstudien interessante Deutungsangebote geliefert. [2]
Hier zeigt sich allerdings auch eine grundlegende methodische Herausforderung für die aktuelle Behördenforschung. Doch die große Anzahl von Studien über Ministerien in der Bundesrepublik in den letzten Jahren ändert der Forschungskontext so schnell, dass manche Ansätze bereits nach wenigen Jahren obsolet wirken. Diese Problematik stellt sich besonders für akademische Qualifikationsarbeiten.
Ein weiteres Element verstärkt die deskriptive Art des Buches: ausführliche Zitate von und über Strauß aus Reden, Aufsätzen und Denkschriften. An einigen Stellen wäre eine stärker kritisch-wissenschaftliche Deutung wünschenswert gewesen. So übernimmt Apostolow die Urteile über die Personalpolitik von Strauß selbst. Hierdurch fehlt es manchmal an analytischer Schärfe, und es vermischt sich die Interpretation des Autors mit der Selbstdarstellung des Staatssekretärs. Nicht zuletzt zeigt dies ein Aufsatz von Strauß von 1976 über die Personalpolitik in den Bundesministerien nach 1949. [3] Gerade hier hätte der Autor die selbstrechtfertigende Wirkung solcher Schriften kritischer hinterfragen und mit eigenen Formulierungen problematisieren können. Schließlich muss der Staatssekretär ohne Bedürfnis für retrospektive Selbstinszenierung und -rechtfertigung erst noch geboren werden.
Anmerkungen:
[1] Manfred Görtemaker / Christoph Safferling Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, 262; im Folgenden ebd., 452.
[2] Vgl. u.a. Frank Bösch / Andreas Wirsching: Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018.
[3] Walter Strauß: Die Personalpolitik in den Bundesministerien zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland, in: Dieter Blumenwitz u.a. (Hgg.): Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Beiträge von Weg- und Zeitgenossen, Stuttgart 1976, 275-282.
Rick Tazelaar