Roland Bernhard / Susanne Grindel / Felix Hinz u.a. (Hgg.): Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern. Von Marathon bis zum Élysée-Vertrag (= Eckert. Die Schriftenreihe; Bd. 142), Göttingen: V&R unipress 2017, 292 S., 21 Abb., ISBN 978-3-8471-0686-9, EUR 40,00
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Christoph Kühberger / Roland Bernhard / Christoph Bramann (Hgg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren - Lernen - Forschen, Münster: Waxmann 2019
Felix Hinz (Hg.): Kreuzzüge des Mittelalters und der Neuzeit. Realhistorie - Geschichtskultur - Didaktik, Hildesheim: Olms 2015
Christoph Bramann / Christoph Kühberger / Roland Bernhard (Hgg.): Historisch Denken lernen mit Schulbüchern, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018
Geschichtsschulbücher sind "soziale und politische Autobiographie[n]", so der Geschichtsdidaktiker Wolfgang Jacobmeyer in seiner monumentalen Studie über das deutsche Schulgeschichtsbuch. Sie vermitteln jeweils das Geschichtsverständnis, das eine Gesellschaft aus ihrer Gegenwartsperspektive heraus als "richtig" erachtet. [1] Vor diesem Hintergrund erscheint es als ein vielversprechendes Unterfangen, Mythen in Geschichtslehrwerken zum Gegenstand der Forschung zu machen. Denn wo Sinn gestiftet und Orientierungsangebote gemacht werden, sind historische Mythen nicht weit. Der Ägyptologe Jan Assmann hat diese gar als "Fixpunkte" des kulturellen Gedächtnisses ausgemacht. [2] Als solche finden sie auch Eingang in das geschichtskulturelle Leitmedium Schulbuch und prägen darüber das Geschichtsbewusstsein ganzer Leser- und Leserinnengenerationen.
Die große inhaltliche Spannbreite, die durch die elf thematischen Beiträge abgedeckt wird, macht neugierig, behandeln die Autorinnen und Autoren doch historische Mythen von "Marathon bis zum Élysée-Vertrag". Es ist davon auszugehen, dass der Sammelband mit diesem epochenübergreifenden Zugriff auch das Interesse von Geschichtslehrerinnen und -lehrern wecken wird. Schließlich wollen die Herausgebenden des Bandes den Blick nicht nur auf die Formen und Funktionen von Mythen in Geschichtsschulbüchern lenken, sondern auch in pragmatischer Hinsicht das "didaktische Potenzial" (18) von Geschichtsmythen für das historische Lernen ausloten.
Das theoretische Fundament liefern Roland Bernhard, Susanne Grindel, Felix Hinz und Johannes Meyer-Hamme mit einer (Arbeits-)Definition des historischen Mythos. Auf wenigen Seiten geben sie einen fundierten Überblick über das Forschungsfeld. Dabei problematisieren die Autoren auch den unspezifischen und amorphen Charakter des Mythos-Begriffs, werben aber dennoch dafür, das Konzept aufgrund seines kritischen Potenzials für Schulbuchforschung und Unterrichtspragmatik nutzbar zu machen (15). Den historischen Mythos definieren sie als "eine in der Gesellschaft bekannte historische Narration [...], deren 'Wahrheitsgehalt' mehr oder minder anerkannt ist, deren Plausibilität bei näherer Betrachtung aber zugleich als problematisch erscheint" (20). Im Folgenden geht es ihnen darum, ein Analyseinstrumentarium zu entwickeln, mit dem Mythen [3] als solche "entlarvt" und auf ihre Struktur hin untersucht werden können. Zu diesem Zweck haben die Verfasserin und die Verfasser ein Frageraster erstellt, das für die Analyse von Mythen im Geschichtsunterricht eine praktikable Ausgangsbasis darstellt.
Bereits in der Einleitung skizzieren die Herausgeberin und die Herausgeber drei Dimensionen, die für die Betrachtung historischer Mythen maßgebend sind. Erstens geben Mythen demnach Auskunft über "Geschichtskulturen", folglich über die Art und Weise, wie Gesellschaften ihre Vergangenheit konstruieren. Zweitens fungieren sie als Indikatoren von Wissenskulturen und lassen Rückschlüsse darauf zu, wie Kollektive "wissenschaftliche Erkenntnis verdichten und popularisieren". Drittens lassen sich die Formen der Vermittlung oder "Kommunikationskulturen" untersuchen (9). Diesen drei Betrachtungsweisen ordnet die Autorengruppe die Beiträge zu. Auch wenn der Band nicht explizit so untergliedert ist (warum eigentlich nicht?), bietet es sich an, die Aufsätze entlang dieser drei Dimensionen zu besprechen.
Felix Hinz und Hansjörg Biener liefern Beiträge, die der Beschaffenheit von Geschichtskulturen zuzuordnen sind. Hinz kommt in Bezug auf die europäischen Rettungsmythen um die Schlachten von Marathon / Salamis und Tours / Poitiers zu dem Ergebnis, diese seien auch in heutigen Lehrwerken unterschwellig noch präsent, wenngleich in "entkontextualisiert[er] und sinnentschärft[er]" Form (54). Biener dagegen macht darauf aufmerksam, dass schon die in aktuellen Lehrplänen enthaltenen Kompetenzen zum Thema Kreuzzüge Wertungen enthalten, die auf Mythen basieren und so zur Bildung eines (positiven) Narrativs - hier das vom "gelungene[n] Miteinander von Christen, Juden und Muslimen" (154) im maurischen Spanien - führen. Angesichts solcher Befunde stellt sich die Frage, ob nicht neben dem Medium selbst auch die institutionellen Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion und die Professionen (Redakteure, Autoren) stärker in die Analyse einzubeziehen wären.
Für die Verdichtung und Popularisierung von Mythen in Wissenskulturen scheinen verschiedene Faktoren von Bedeutung zu sein. Der Mythos um Martin Behaim und seinen (angeblich ersten) Globus ist Roland Bernhard zufolge primär deshalb so erfolgreich gewesen, da er als "klassische Heldenerzählung" ein besonderes ästhetisches und politisches Potenzial entfalten konnte. Generell scheint die große Beharrungskraft von Mythen eng mit den in Geschichtswissenschaft und Gesellschaft prägenden Diskursen verknüpft zu sein. Dies gilt für den Hermannsmythos, dessen Ausläufer Björn Onken zufolge auch noch in Lehrwerken aus der Zeit nach 1945 auffindbar sind, ebenso wie für den des Kolonialismus. So weist Susanne Grindel auf die Zählebigkeit des Mythos vom Kolonialismus als eine rein europäische Erfolgsgeschichte hin - ein Narrativ, das nur durch einen Perspektivwechsel wirksam aufgebrochen werden könne, der die "Kolonisierten" als handelnde Subjekte ins Blickfeld rückt. Tobias Kuster zeigt, dass der Mythos der Reichsautobahn in aktuellen Schulbüchern nur zum Teil dekonstruiert, in manchen Fällen gar unbewusst fortgeschrieben wird, da einzelne Mythologeme in visuellen Verdichtungen - etwa einem NS-Werbeplakat, das rein illustrativ eingesetzt wird - weiterhin präsent bleiben.
Die übrigen Beiträge befassen sich mit Kommunikationskulturen: In seiner quantitativ-qualitativen Analyse aktueller österreichischer Schulbücher hat Christoph Kühberger nachgewiesen, wie stark zum Teil Verfassertexte in aktuellen Schulbüchern dem Muster der Personalisierung folgen und damit den politischen Hitler-Mythos fortschreiben. Die beiden Beiträge von Julia Thyroff und Markus Furrer ergänzen sich insofern, als sie interessante Einblicke in den diachronen Wandel mythischer Erzählungen in Schweizer Schulbüchern bieten. So zeigt Furrer auf, wie der jahrhundertealte Mythos der neutralen Schweiz durch die Bedrohung im Kalten Krieg neue Nahrung gefunden hat. Das Ende desselben erscheint demnach nicht allein als politische Zäsur, sondern auch als Voraussetzung für eine "Pluralisierung von Geschichtsbildern" (260). Aktuelle Lehrwerke, so konstatiert denn auch Thyroff mit Blick auf die Darstellung der beiden Weltkriege, pendeln sich eher zwischen den Polen Identitäts- und Geschichtsbewusstseinsbildung ein. Allerdings scheinen auch postnationale Identitätskonstrukte nicht ohne Mythen auszukommen: Christine Pflüger zufolge bildet der (verbindende) Mythos vom Élysée-Vertrag als Grundstein für die deutsch-französische Freundschaft ein geläufiges Schulbuchnarrativ. Ein Verdienst Pflügers ist es, dass sie, angelehnt an das Konzept der "Arbeit am Mythos" (Hans Blumenberg), auch verschiedene Variationen eines Narrativs herausarbeitet.
Insgesamt fokussieren die Einzelbeiträge, die häufig an der Schnittstelle zwischen historischer und didaktischer Schulbuchforschung anzusiedeln sind, mehrheitlich auf die Analyse von Darstellungstexten. Gerade die Frage, wie aktuelle Lehrwerke mit Mythen umgehen und diese dekonstruieren, kommt dadurch gelegentlich zu kurz. Dabei hätte sich gerade eine Analyse der Text-Bild-Kommunikation und der mit dem Material verknüpften Arbeitsaufträge gelohnt. [4] Diese Bereiche bleiben aber, abgesehen von einigen positiven Ausnahmen (zum Beispiel Kuster), eher unterbelichtet. Auch erfahren die Leserinnen und Leser recht wenig über die Darstellung von Mythen in den Geschichtsschulbüchern anderer europäischer Nationen. Angesichts der Tatsache, dass sich einige Autoren mit dezidiert europäischen Mythen befassen, hätte eine stärker inter- beziehungsweise transnational-vergleichende Perspektive dem Buch gewiss einen noch größeren Erkenntnisgewinn verschafft. Ungeachtet dieser Kritikpunkte liefert der Band wertvolle Impulse für künftige Forschungen. Insbesondere das in dem Basisbeitrag vorgestellte Theoriegerüst zur Identifizierung von Mythen vermag in dieser Hinsicht zu überzeugen.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700-1945: Die erste Epoche seiner Geistesgeschichte im Spiegel der Vorworte, Band 1, Eckert. Beiträge 2013 / 1, 10f., das Zitat auf Seite 10, http://www.edumeres.net/urn/urn:nbn:de:0220-2013-0001-0016 (zuletzt aufgerufen am 23.03.2019).
[2] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 78.
[3] Ebd.
[4] Zur Rolle von Aufgaben für das historische Lernen vergleiche Holger Thünemann: Historische Lernaufgaben. Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), 141-156; Birgit Wenzel: Aufgaben(kultur) und neue Prüfungsformen, in: Michele Barricelli / Martin Lücke (Hgg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2, Schwalbach / Ts. 2012, 23-26.
Sebastian Wemhoff