Felix Budelmann / Tom Phillips (eds.): Textual Events. Performance and the Lyric in Early Greece, Oxford: Oxford University Press 2018, XII + 315 S., ISBN 978-0-19-880582-3, GBP 65,00
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Zentrales Projekt dieses Sammelbandes ist die Neubestimmung einer Poetik archaischer Lyrik, die deren ästhetischen Gehalt rückgewinnen will und sich als komplementär zu rein funktionalen Deutungen von Lyrik innerhalb soziokulturell-ritueller Kontexte von Festgemeinschaften oder symposialen Gruppen versteht: Die Lyrikforschung seit den 70er-Jahren mit ihrer Betonung sozialer Settings und Praktiken mündlicher Darbietungen von Lyrik als öffentlicher Kommunikation bündeln die Verfasser unter dem Stichwort "anthropological paradigm". Dabei sei die Kunstfertigkeit und Ästhetik in den Hintergrund gerückt: "As lyric became 'song', it lost much of its 'poetry'" (3). Demgegenüber zielt der Band auf die ästhetisch-literarische Würdigung der von einem Spektrum an Ausdrucksformen und elaborierten Wort-Artefakten gekennzeichneten Dichtung sowie der beteiligten Akteure (Autoren, Darbietende, Zuhörende), die nicht auf bloße Rollen innerhalb kultureller Systeme reduziert, sondern als aktive Teilnehmende in die lyrische Kommunikation miteingebunden werden.
Der Band versammelt neben einer programmatischen Einleitung zwölf Beiträge, die besonders Sappho, Alkaios, Anakreon (monodische Melik) sowie Alkman und Pindar (Chorlyrik) in den Mittelpunkt stellen. Auch die spätarchaische Hymnik (bei Spelman und Thomas) wird auf Konvergenzen mit der Lyrik untersucht; zwei Beiträge behandeln ferner die Rezeption archaischer Lyrik in der lateinischen Dichtung (Hutchinson zu Alkaios und Horaz) sowie der kaiserzeitlichen Prosa (LeVen zu Longos).
In ihrer Einleitung rücken die Herausgeber die Literarizität der Lyrik ins Zentrum. Lyrik erzeugt komplexe Sprechinstanzen und imaginäre Welten, die sich im Rahmen ihrer Rezeption an stets neue Umwelten wenden. Der Begriff "Ereignis" ("event") umfasst dabei eine pragmatische wie eine literarische Dimension: Er deutet einerseits auf den performativen Kontext (Fest/Symposion), andererseits die dynamisch und autonom verstandene Ästhetik der Gedichte selbst, die in ihrer Interaktion mit dem Publikum Bedeutung jenseits konkreter Aufführungs-Zwecke vermitteln - wobei sich beide Dimensionen in Fällen der gedichtimmanenten Projektion imaginärer Ereignis-Kontexte überlappen: "In examining how the two sides of this dichotomy interact, this volume tries to help us understand more fully how Greek lyric enriches, explores, intervenes in, and indeed creates, its worlds" (2). Literarizität wird (produktionsästhetisch) markiert durch herausgehobene, nicht-alltägliche Sprache, Stil, Struktur, Rhythmus, Melodie, die - ohne sich in spezifischen Kontexten zu erschöpfen - (rezeptionsästhetisch) das Publikum zur Interaktion herausfordern. Dabei wird die Literarizität der Lyrik angemessen weit gefasst und scheint so weder zwanghaft an Textualität gebunden, noch von Performanz-Situationen überdeterminiert: Zwar wird die anachronistische Verwendung des (nicht emischen) Konstrukts des 'Literarischen' kritisch betrachtet, doch helfe es bei der Vergewisserung und Rückspiegelung unserer eigenen, stets subjektiven Zugänge zur archaischen Lyrik. Die Begriffsverwendung wird ferner dadurch begründet, dass linguistische, rhythmische sowie konzeptuelle Strukturen, auf die verschiedene Interpretationsgemeinschaften im Laufe der Zeit reagierten, viel stabiler blieben als die variablen performativen Kontexte.
Der Band ist inhaltlich dreigeteilt: Der erste Abschnitt lotet das Verhältnis imaginärer und realer lyrischer Umwelten aus (D'Alessio, Uhlig, Fearn, Hutchinson); der folgende verortet die Gedichte in intellektuellen Kontexten wie Intertextualität, Gattung oder Literaturgeschichte, in deren Rahmen jene sich entwerfen (Whitmarsh, Spelman, Thomas, Phillips); im letzten Teil werden lyrische Spezifika herausgearbeitet, die der Interaktion von Zuhörern, Texten, Autoren und Performern entspringen (LeVen, Budelmann, Payne). Hier sei aus jedem Abschnitt der meines Erachtens gelungenste Beitrag vorgestellt, um daran jeweils Stärke und Vielseitigkeit des Bands herauszuarbeiten:
Aus der Untersuchung situativer Referenzen in Sapphos Lyrik, etwa Deixis oder Apostrophen, folgert D'Alessio (Kap. 2), dass solche Marker nicht notwendigerweise auf die (Re-)Konstruktion eines performativen Kontexts deuten (als "embeddedness within a ritually formalized communicative occasion"), sondern auch vielfältige Bezüge auf rein imaginäre Ereignisse zuließen. Er verortet Sapphos lyrische Sprech-Instanzen an den Rändern ritueller Performanz, über die zugleich reflektiert werde; Die kommunikativen Strategien tranzendieren festgelegte Kontexte und verdeutlichen, dass lyrische Sprecher von außen auf Situationen oder Emotionen blicken können ("their ability to look at this occasion from the margin, also providing models of response, that guaranteed their diffusion and survival beyond their original context", 62) - ein Kennzeichen Sapphischer Dichtkunst.
Spelman (Kap. 7) untersucht die subtilen autorpoietischen Strategien des Homerischen Apollon-Hymnos und erkennt Parallelen in Modellen auktorialer Präsentation in der spätarchaischen Chorlyrik Pindars und Bakchylides': Lyrische wie hymnische Texte teilen das Interesse an gegenwärtigen wie antizipierten Darbietungen und deuten auf eine gemeinsame literarische Kultur, welche die Möglichkeiten und Grenzen von Dichtung gattungsüberschreitend reflektiert und transzendiert.
Budelmann (Kap. 11) umreißt die besondere Psychologie der Lyrik mit Rückgriff auf den kognitionstheoretischen Begriff "mentalizing" ("the human ability to form impressions of other people's mind-states"): Rezipienten rekonstruieren demnach aktiv die geistigen Zustände der vertikal verbundenen Instanzen Sprecher, Autor und Performer. Die Deutung lyrischer Aussagen korreliere mit dem Verständnis von deren Überschneidungen und Hierarchien: So stellen Dichter wie Anakreon in fr. 402c PMG Sprecher dar, die wiederum Dichter sind, was eine Trennung von Autor und persona loquens verhindert. Zugleich operiert Lyrik mit Offenheit und Leerstellen, die weniger irritieren als sie sich eher im Moment der Rezeption ignorieren oder (spekulativ) kontextualisieren lassen. So bietet Sapphos fr. 31 V. einen lyrischen 'Vertrag' mit den Rezipienten: Weder muss man die geschilderten Liebesleiden als 'wahr' ansehen oder sie auf eine reale psychologische Situation beziehen, noch 'lügt' die Sprechinstanz: Vielmehr lässt sich ihre Symptomatik in der projizierten lyrischen Welt des Gedichts akzeptieren. Über den transparenten kognitiven Kontakt von Aussage-Instanz und Hörer lassen sich geistige wie psychologische Zustände impliziter und projizierter Autor-Figuren rekonstruieren, die sich dem kommunikativen Gegenüber als deutender Instanz anvertrauen. Solche Transparenz entspricht dem kommunikativen Reiz idealer lyrischer Welten.
Der Band bietet eine ästhetische Neudeutung lyrischer Textbestände - über eine Generalisierung ließe sich angesichts der Unterrepräsentation etwa des Archilochos oder Stesichoros streiten. Angesiedelt jenseits rein funktionaler Ausdeutungen und diesseits der jeweils eindimensionalen Pole bloß performanzbasierter Lyrik-Interpretation sowie reduktiv gefasster Literarizität (damit trügt das Attribut "textual" des Titels etwas), ist sein wichtigstes Resultat der erfolgreiche Versuch, den ästhetischen Zauber archaischer Lyrik neu erfahr- und verstehbar zu machen.
Markus Hafner