Joseph A. Howley: Aulus Gellius and Roman Reading Culture. Text, Presence, and Imperial Knowedge in the Noctes Atticae, Cambridge: Cambridge University Press 2018, X + 282 S., ISBN 978-1-316-51012-4, GBP 75,00
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Leofranc Holford-Strevens / Amiel Vardi (eds.): The Worlds of Aulus Gellius, Oxford: Oxford University Press 2004
Geoff W. Adams: Marcus Aurelius in the Historia Augusta and Beyond, Lanham, MD: Lexington Books 2013
David Rohrbacher: The Play of Allusion in the Historia Augusta, Madison, WI: University of Wisconsin Press 2016
Das hier zu besprechende Buch versteht sich nicht zuletzt als Plädoyer dafür, die Noctes Atticae in erster Linie als einen literarischen Text und nicht nur als eine Quelle verlorener Werke und eine Fundstelle für Zitate zu lesen. Auch wenn sich diese Sichtweise in den letzten Jahrzehnten in der durchaus regen Forschung zu Aulus Gellius bereits durchgesetzt hat und daher nicht mehr so originell ist, wie sie es sicherlich noch war, als der Verfasser 2006 in St. Andrews mit seiner Dissertation begonnen hat, die 2011 abgeschlossen wurde und aus der dann diese Publikation hervorgegangen ist, so wird die neue communis opinio doch hier - vor allem, aber nicht nur in der Einleitung (1-18) - besonders überzeugend und mit sprachlicher Eleganz vertreten, wenn auch der Charakter einer revolutionären Neubewertung hier und da überbetont wird. Mit Blick auf ein Publikum über den engeren Kreis der Fachleute hinaus ist diese klare und gut nachvollziehbare Positionierung aber sehr zu begrüßen, da sich etablierte Vorstellungen von Autoren und ihren Werken bekanntermaßen bei weitem nicht so schnell ändern, wie es der community innerhalb der Wissenschaft angemessen erscheinen würde.
In engem Anschluss an die Einleitung entfaltet das erste Kapitel unter dem Titel "How to Read the Noctes Atticae" (19-65) diesen Perspektivenwechsel programmatisch weiter und macht sich für die Einordnung der Noctes Atticae in ihrem eigenen kultur- und literaturgeschichtlichen Kontext stark. Auf diese Weise soll der Fokus generell (und nicht nur in den narrativen Partien mit ihren zum Teil recht elaborierten Rahmenhandlungen) von den referierten Inhalten auf die eigenen Ideen des Autors verschoben und die zahlreichen Verweise auf ältere Texte nicht nur als zitierte Quellen, sondern vor allem als literarische Bezüge verstanden werden. Verdeutlicht wird das Gemeinte mit Hilfe zweier Fallstudien: Einmal wird gezeigt, dass sich mit Plutarch eine inhaltliche Auseinandersetzung an mehreren Stellen beobachten lässt, die über ein bloßes Zitieren deutlich hinausgeht. Danach wird an der Figur des Taurus illustriert, welche Rolle die Schilderung der Begegnungen mit ihm für Gellius spielt, auch wenn diese in den Noctes Atticae nicht chronologisch, sondern in der scheinbar ungeordneten Folge dargeboten werden, wie sie auch für ein Gedichtbuch oder eine Briefsammlung charakteristisch ist. Abschließend wird die Annahme überzeugend zurückgewiesen, dass die Beigabe eines Inhaltsverzeichnisses gegen eine kontinuierliche Lektüre als Intention des Textes spreche.
Komplementär dazu wird dann im zweiten Kapitel ("Gellius in the History of Writing about Reading"; 66-111) die Thematisierung des Lesens in den Noctes Atticae in den Mittelpunkt gerückt und unter Verweis vor allem auf die Arbeiten von Eric Gunderson [1] und William A. Johnson [2] betont, dass es Gellius nicht um die Vermittlung von Wissen als Selbstzweck, sondern um den richtigen Umgang mit Bildung im Kontext der eigenen Gesellschaft geht. Bücher sind für Gellius daher nur ein Element bei der Beantwortung einer bestimmten Frage, die durch das Nachschlagen einer Stelle (und durch deren Zitieren) nicht beendet ist, sondern in vielen Fällen auch das Infragestellen von Autoritäten umfasst. Belegt wird dies einerseits an Gellius' eigenen Umgang mit Texten, andererseits an den Erwähnungen von Quintilian, Plinius dem Älteren und Plutarch in den Noctes Atticae, die kontrastiv als Beispiele für jeweils andere Arten der Lektüre verwendet werden. Abschließend wird Gellius' Ansatz kurz in die historische Entwicklung der Konzeptualisierung des Lesens von der Spätantike bis zum 21. Jahrhundert eingeordnet.
Das dritte Kapitel ("Gellius on Pliny. Fashioning the Miscellanist and His Readerly Lifestyle"; 112-156) wendet sich noch einmal und ausführlicher Plinius dem Älteren zu, den Gellius als wahllosen Dauerleser und als Gegenbild zu seinen Entscheidungen für eine reflektierte Lektüre inszeniert. Gezeigt wird dies vor allem anhand eines Vergleichs von Gell. 9,4 mit Plinius, nat. hist. 7,9-26, der in mehreren Schritten erfolgt und so die verschiedenen Ebenen der kritischen Distanzierung überzeugend aufzeigen kann. Abschließend werden die auf diese Weise einander gegenübergestellten Lesestrategien noch vor dem Hintergrund der Frage näher beleuchtet, wie gelesenes Wissen durch sie jeweils memoriert werden kann.
Das vierte und innovativste Kapitel ("Encounters with Tradition in Gellian Research";157-203) behandelt Gellius' oft erstaunlich kritischen Umgang mit den Vermittlungsinstanzen, also Kommentaren oder anderen erklärenden Werken, die im Laufe der frühen Kaiserzeit entstanden sind, um die Literatur und Sprache der Klassiker zugänglich zu machen. Dabei geht es ihm vor allem darum, die Leser an seiner Skepsis und an dem Prozess der Wissensgewinnung teilhaben zu lassen. Als Paradebeispiel für seine Distanzierung von solchen Mittlerfiguren wird Ciceros Freigelassener Tiro herangezogen und dies vor allem anhand seiner Interpretation der Rede pro Rhodiensibus des Älteren Cato veranschaulicht, die von Gellius recht kritisch wiedergegeben wird (in 6,3). Abschließend wird Gellius' Haltung zur wissenschaftlichen Tradition seiner Zeit noch einmal auf der inhaltlichen Ebene verdeutlicht, und zwar anhand der Diskussion der Frage, wie lange eine Schwangerschaft dauern kann (in 3,16).
Während sich das vierte Kapitel mit solchen commentarii - oder Essays, wie sie Joseph Howley mit guten Gründen nennt [3] - beschäftigt, in denen Gellius scheinbar nur angelesenes Wissen wiedergibt, widmet sich das fünfte und letzte Kapitel ("Favorinus, Fiction, and Dialogue at the Limits of Expertise"; 204-252) denjenigen Partien der Noctes Atticae, die aufwendiger und in Form von Dialogen gestaltet sind. Diese dienen - wie die Forschung der letzten Jahrzehnte verschiedentlich betont hat - nicht nur der delectatio des Lesers, sondern sind auch die Stellen, an denen Gellius seine Vorstellung von der richtigen Anwendung von Bildung am deutlichsten zur Sprache bringt. Sie werden daher zunächst in die platonische und ciceronianische, aber auch die kaiserzeitliche Tradition des Dialoges eingeordnet, bevor mit Grammatikern, Rhetoren und anderen Experten typische Teilnehmer dieser Gesprächsszenen vorgestellt werden. Schließlich dient Favorinus von Arelate als Beispiel dafür, wie die angestrebte Art und Weise, mit Wissen selbstverständlich, aber auch reflektiert umzugehen, hier vor Augen geführt wird.
Ein elegantes Fazit (253-263) bündelt noch einmal die vorgestellten Überlegungen, ehe das Buch mit dem Literaturverzeichnis (265-274) sowie einem Stellen- und Sachindex (275-282) schließt. J. Howleys Studie zu Gellius und dem Lesen liest sich nicht nur angenehm [4], sondern ist auch inhaltlich lesenswert und wird das Bild der Noctes Atticae in der kommenden Zeit entscheidend mitprägen. Man hätte einem Buch, das die durch Lektüre ausgelöste Freude so sympathisch beschreibt und den intertextuellen Dialog als Lebensader der Wissenschaft in der Antike wie heute so engagiert präsentiert, allerdings gewünscht, dass es selbst noch etwas intensiver den Kontakt zu den Arbeiten über die Noctes Atticae gesucht hätte, die in den letzten Jahren gerade auch in anderen Sprachen als Englisch geschrieben wurden. [5] Doch auch wenn am Ende meines eigenen commentarius der typisch gellianische Hinweis steht, was man noch alles lesen könnte, so soll das doch keineswegs den Blick darauf verstellen, dass man von nun an tunlichst mit diesem Buch den Anfang machen sollte.
Anmerkungen:
[1] Erik Gunderson: Nox philologiae: Aulus Gellius and the fantasy of the Roman library, Madison 2009.
[2] William A. Johnson: Readers and Reading Culture in the High Roman Empire. A study of Elite Communities, Oxford 2010, 98-136.
[3] Vgl. v.a. S. 3 Anm. 6: "Instead of the standard 'chapter,' ... I use 'essays' as a reminder that these individual units of the text are formally distinct from the modern literary chapter, and as a provocation to consider their literary nature."
[4] An größeren Störungen des Leseflusses ist mir eigentlich nur die Wiederholung eines ganzen Satzes im ersten Abschnitt auf Seite 189 aufgefallen.
[5] Vgl. z.B. Vera Binder: Vir elegantissimi eloquii et multae undecumque scientiae - Das Selbstverständnis des Aulus Gellius zwischen Fachwissen und Allgemeinbildung, in: Marietta Horster / Christiane Reitz: Antike Fachschriftsteller: Literarischer Diskurs und sozialer Kontext, Stuttgart 2003, 105-120; Dennis Pausch: Biographie und Bildungskultur. Personendarstellungen bei Plinius dem Jüngeren, Gellius und Sueton, Berlin 2004; Ute Tischer: Gellius, ein stoischer nebulo und das Zitat - Zu Gellius 1,2, in: Philologus 151 (2007), 273-284; Julia Fischell: Der Schriftsteller Aulus Gellius und die Themen seiner Noctes Atticae, Diss. Hamburg 2011; Beate Beer: Schwache Erzähler, starke Leser: Zum erzählerischen Programm im Vorwort von Gellius' Noctes Atticae, in: Antike & Abendland 60 (2014), 51-69; Meike Rühl: Genderaspekte von Wissen und Wissenspräsentation in den Noctes Atticae des Gellius, in: Darja Šterbenc Erker, Frauenbild im Wandel, Trier 2015, 75-100.
Dennis Pausch