Helga Schnabel-Schüle (Hg.): Reformation. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler 2017, X + 378 S., ISBN 978-3-476-02593-7, EUR 99,99
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Die Reformationszeit ist ohne Zweifel eine der am intensivsten erforschten Phasen der deutschen und europäischen Geschichte - und das nicht erst seit dem mit langem Vorlauf publikumswirksam inszenierten Jubiläum 2017. Ein "historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch", von dem Orientierung in einem kaum mehr zu überblickenden Feld zu erwarten wäre, erscheint dementsprechend als willkommene Bereicherung für Forschung und Lehre, zumal die Herausgeberin in der Reformationsforschung einschlägig ausgewiesen und der Verlag für die Realisierung größerer Handbuch- und Lexikonprojekte bekannt ist. Allerdings muss das Urteil über das vorliegende Handbuch eher ambivalent ausfallen - vielleicht weil die Erwartungen des Rezensenten aufgrund des sehr allgemeinen und zugleich methodisch ambitionierten Titels zu hoch waren, sicherlich aber auch, weil diese Erwartungen seitens der Herausgeberin nicht eingefangen und kanalisiert werden.
Denn in der lediglich zwei Seiten umfassenden Einleitung finden sich zwar einige modische Schlagworte, wie Europa, Interdisziplinarität, Akteursgruppen, Raum, Medialität usw., aber keinerlei methodische und konzeptionelle Überlegungen. Wie 'Kulturgeschichte' hier mit Blick auf die Reformation verstanden wird, erfährt der Leser dementsprechend nicht. Unter den Beiträgen finden sich dann sowohl solche, die eher klassische reformationsgeschichtliche Themen behandeln, als auch solche, die tatsächlich der jüngeren, kulturwissenschaftlich inspirierten Reformationsforschung verpflichtet sind. Auch fehlt in der Einleitung jeglicher Hinweis auf die an Kontroversen nicht unbedingt arme Reformationsgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte. Selbst das Konfessionalisierungsparadigma bleibt unerwähnt, obwohl der Band dem "Nestor der Konfessionalisierungsforschung Ernst Walter Zeeden (1916-2011)" gewidmet ist. Da ist es nur folgerichtig, dass auch die Frage der Periodisierung der Reformationszeit nicht thematisiert wird und die konfessionsvergleichende Perspektive ausgeblendet bleibt. Bei der Lektüre der Beiträge wird ersichtlich, dass es dem Handbuch um die protestantischen Reformationen des 16. Jahrhunderts geht, wobei Lutheranern und Reformierten besondere Aufmerksamkeit zukommt, während die weiteren Strömungen des reformatorischen Spektrums eher am Rande figurieren. Die katholische Kirche begegnet hingegen, wenn überhaupt, vor allem als gegenreformatorischer Akteur, nicht aber als gestaltende Kraft einer eigenständigen Reform und Konfessionalisierung. Die zugrundeliegenden konzeptionellen Entscheidungen sind mit Blick auf die inhaltliche Geschlossenheit und den zur Verfügung stehenden Platz sicherlich zu rechtfertigen, aber man sollte dies in einem "als Arbeitsbuch für Forschung, Lehre und Studium" (X) konzipierten Werk doch entsprechend erläutern.
Kapitel I zu den "Voraussetzungen" der Reformation liefert einen knappen, eher konventionellen Überblick über die kirchen-, politik- und geistesgeschichtlichen Entwicklungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (Helga Schnabel-Schüle). Auch die "Theologischen Diskurse" in Kapitel II sind eher einer klassischen theologie- bzw. geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise verpflichtet. Warum an dieser Stelle übersetzte bzw. normalisierte Auszüge aus 27 "Schlüsseltexten" mit kurzen Einführungen geboten werden, ist nicht einsichtig, zumal die Auszüge so knapp sind (etwa acht der 95 Thesen Luthers oder ein paar Zeilen aus Melanchthons 'Loci communes'), dass man damit weder in der Forschung noch in der Lehre wirklich arbeiten könnte.
Kapitel III zu "Akteuren und Netzwerke[n]" entspricht zumindest dem Titel nach den Erwartungen an ein historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch. Andreas Mühling rekonstruiert in seinem Beitrag zu "Theologen, Universitäten, Schulen, Höfe[n]" auch tatsächlich Netzwerke der reformatorischen Ideenbildung und Auseinandersetzung, wobei es ihm vor allem um die Theologen geht. Die genannten Orte fungieren gleichsam als Bühne, werden aber nicht systematisch mit Blick auf ihre Bedeutung für die Reformation behandelt. Heiner Lücks Beitrag zu den "Juristen um Luther in Wittenberg" ist hingegen eher biographisch orientiert und bringt mehr oder weniger ausführliche Biogramme zu den betreffenden Personen, was mit Blick auf den Handbuchcharakter des Werks nicht sonderlich zielführend ist, würde man entsprechende Informationen doch eher in einem biographischen Lexikon nachschlagen. Auch die "Buchdrucker" (Hanna-Christina Weber) werden nach einigen systematischen Abschnitten in Form von Biogrammen behandelt. Der Beitrag von Andreas Tacke und Birgit Ulrike Münch zu "Künstlern und Ateliers" folgt auf den ersten Blick ebenfalls diesem Muster, indem er die großen Namen (Cranach, Dürer, Grünewald usw.) herausgreift. Allerdings werden nicht deren Biographien vorgestellt, sondern die Künstler problemorientiert mit Blick auf ihr Verhältnis zur Reformation und die Frage ihrer konfessionellen Gebundenheit bei Auftragsarbeiten analysiert. So sinnvoll ein Beitrag zum Thema "Landstände und Reformation" (Daniel Kugel) mit Blick auf Akteure und Netzwerke ist, fragt man sich unweigerlich, warum andere Protagonisten der Reformation, etwa die Fürsten und ihre Räte, städtische Magistrate, Adlige (als Stand, nicht als Landstand), Bauern oder auch Frauen, nicht eigens thematisiert werden. Der letzte Abschnitt von Kapitel III behandelt "konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen" (Bent Jörgensen) und greift damit ein Thema auf, das wiederum unmittelbar an aktuelle, kulturwissenschaftliche Forschungsdiskurse anschließt.
Kapitel IV zu den "Reformatorischen Räumen" ist mit fast zweihundert Seiten das umfangreichste, weckt allerdings falsche Erwartungen, denn es geht hier nicht um kulturwissenschaftlich konstruierte oder dekonstruierte Räume und Orte, nicht um Kirchenräume, Frömmigkeitslandschaften, Erinnerungsorte usw. Vielmehr stehen die Reichs- und die Territorialgeschichte der Reformation sowie die Entwicklungen in den einzelnen europäischen Ländern und in Nord- und Südamerika im Mittelpunkt. Der Beitrag zum "Reich als reformatorischer Raum" stellt einen klassischen Abriss der Reformationsgeschichte bis 1555 dar (Helga Schnabel-Schüle). Stephan Laux liefert mit seinem nach Regionen und Territorien gegliederten Beitrag "Die Territorien, Städte und Regionen des Alten Reichs" hingegen einen so bislang noch nicht vorliegenden Überblick, der aufgrund der Vielfalt der geschilderten Entwicklungen und der jeweils angeführten Literatur hervorragend zum Nachschlagen geeignet ist. Der Beitrag dient als "Grundorientierung zur regionalen Ereignisgeschichte der Reformation" (153) und behandelt aufgrund der unterschiedlichen Verläufe auch die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. Neben dem territorialgeschichtlichen Überblick systematisiert Laux seine Befunde in einem eigenen Abschnitt mit dem Titel "Reformatorische Räume des Reichs in typologischer Sicht". Sehr eingängig werden hier die großen Linien des reformatorischen Geschehens auf territorialer Ebene gezeichnet. Für die künftige territorialvergleichende Reformationsforschung dürfte der Beitrag ein zentraler Bezugspunkt sein. Den Charakter von Überblicken zur Erstinformation haben die folgenden Beiträge zu den europäischen Entwicklungen (Andreas Mühling, Mariano Delgado, Simon Karstens, Rita Voltmer, Philipp Zwyssig, Jacek Wijaczka, Márta Fata). Wie die Beiträge von Laux nehmen sie das gesamte 16. Jahrhundert in den Blick, fallen aber notwendigerweise nur knapp aus. Irritierend ist, dass in manchen Artikeln auf keinerlei Literatur in den betreffenden Landessprachen verwiesen wird.
Das letzte Kapitel V greift mit dem Thema der "Medialität von Reformation" wiederum ein genuin kulturwissenschaftliches Forschungsfeld auf, das der Reformationsforschung in jüngerer Zeit vielfältige Impulse gegeben hat. Jan-Friedrich Mißfelder befasst sich methodisch ambitioniert mit "Mündlichkeit und Schriftlichkeit". Der Beitrag hat eher den Charakter eines pointierten, thesenbildenden Aufsatzes als den eines Handbuchartikels, ist in jedem Fall aber lesenswert. In den übrigen Beiträgen werden dann systematisch verschiedene Medien vorgestellt, so die "Flugschriften als Leitmedien reformatorischer Öffentlichkeit" (Silvia Serena Tschopp), die "Reformationsliteratur" (Martin Przybilski), die "Musik" (Mißfelder) und schließlich die "Kunst" (Münch, Tacke). Alle Beiträge reflektieren eingehend den Forschungsstand, beschränken sich aber mit Ausnahme von Tschopp auf den deutschsprachigen Raum, so dass die ereignisgeschichtlichen Überblicksartikel zu den europäischen Ländern in Kapitel IV hier keine inhaltliche Erweiterung erfahren. Mit Blick auf die vorgestellten Medien wären ausgewählte Abbildungen sinnvoll gewesen.
Abschließend befasst sich Helga Schnabel-Schüle mit den "Nachhaltige[n] Folgen des reformatorischen Prozesses" und spricht dabei mit "Pluralisierung", "Visitationen", "Bildung" sowie "Politik und Reformationsgedenken" durchaus zentrale Punkte an, auch wenn man sicherlich noch eine ganze Reihe anderer 'Folgen' hätte diskutieren können. Dies gilt auch für den Band insgesamt, der vieles in gelungenen Überblicken präsentiert, anderes aber unberücksichtigt lässt. Zu nennen wären etwa Schule und Bildung, Recht, Wirtschaft, Sprache, materielle Kultur, Räume und Orte, Symbole und symbolisches Handeln, Wahrnehmung und Erfahrung, die oben schon erwähnten Akteure sowie nicht zuletzt die Gemeinden und die vor Ort gelebte Frömmigkeitspraxis. Gleichwohl wird man künftig das Handbuch mit Gewinn zur Erstinformation und als Referenz heranziehen; das gilt insbesondere für die verlässlich aufbereiteten Informationen zur Entwicklung der Reformation in den verschiedenen Ländern Europas, im Reich und seinen Territorien sowie für die Überblicke zur Medialität der Reformation.
Andreas Rutz