Hubert Schneider: Das Tagebuch der Susi Schmerler, eines jüdischen Mädchens aus Bochum (= Geschichte; Bd. 162), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2018, II + 171 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-643-14170-5, EUR 29,90
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In diesen Tagen hätte Anne Frank ihren 90. Geburtstag gefeiert, entsprechend häufig fällt derzeit wieder ihr Name. Beginnend mit der Publikation ihrer Tagebücher 1947 (und somit zwei Jahre nach ihrem Tod) erlangte sie bis heute einen nahezu weltweiten Bekannheitsgrad: Vor dem Amsterdamer Haus, in dem sie sich mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten versteckte, reihen sich die Besucherschlangen, es gibt eine anhaltende Forschungstätigkeit zu ihrem Schicksal, das in zahlreichen Bühnen-Inszenierungen und diversen internationalen Filmprojekten immer wieder nachgezeichnet wird. [1]
Es ist gut, dass eine Jugendliche - als ihre Umwelt reflektierende Diaristin - breites Interesse weckt und vielen, insbesondere jungen Menschen als Vorbild dient. Bedauerlich hingegen ist, dass ihr Andenken viele vergleichbare Biografien überdeckt, die eine ähnlich ergiebige Auseinandersetzung versprächen. Als exemplarisch für eine solche Quelle dürfen die Briefe und Tagebücher von Susi Schmerler gelten, die Hubert Schneider in der vorliegenden Ausgabe zugänglich macht und kommentiert. Darüber hinaus nimmt er eine Einordnung in die Stadtgeschichte Bochums vor, für die er als ausgewiesener Experte zu bezeichnen ist: An der Ruhr-Universität war Schneider über Jahrzehnte im Fachbereich der Osteuropäischen Geschichte tätig, sein bereits damals ausgeprägtes lokalgeschichtliches Forschungsinteresse richtet sich bis heute auf die jüdische Gemeinde der Stadt. Innerhalb einer Trilogie zu diesem Gegenstand bilden die Zeugnisse von Susi Schmerler den Abschluss. [2]
Schneider referiert zunächst die Zwangsausweisung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich im Herbst 1938 und zeichnet für diese Phase von der Jüdischen Gemeinde in Bochum das Bild einer heterogenen Gruppe, in der die Ostjuden eine besondere, in gewisser Weise isolierte Position eingenommen hätten. Bei der Darstellung der sogenannten Polenaktion stützt er sich über die Forschung hinaus auf verschiedene Zeitzeugen, die ihre Ausweisung aus Bochum aus ihrer Perspektive schildern. Eine Stimme ist die von Susi Schmerler, deren Familie, 1912 aus Osteuropa ins Ruhrgebiet emigriert, als staatenlos galt und somit von dieser Maßnahme betroffen war. Im polnischen Grenzort Zbąszyń verfasste sie, zu dem Zeitpunkt 15 Jahre alt, erstmals einen längeren Text über ihre Situation und die beabsichtigte Auswanderung nach Palästina. [3] Bereits diese wenigen Seiten sind gekennzeichnet von einem klaren, sachlichen Blick auf die Dinge, trotz der Umstände am überfüllten Bahnhof. Ohne zu klagen, beschrieb Susi Schmerler die Situation, deutete das Pariser Attentat des jungen Juden Herschel Grynszpan plausibel als Verzweiflungstat und fand eine für ihr Alter bemerkenswerte Sprache: "Noch immer sitzen wir um das Feuer, längst haben wir aufgehört zu singen. Ein jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, die doch trotz allem die gleichen sind. [...] Wir sehen in das Feuer. Die Flamme kommt näher und näher. Jetzt ergreift sie schon das neue Holz. Ein ganz klein wenig brennt es an, lodert plötzlich zu einer einzigen Flamme hoch empor! - Und erlischt dann eben so jäh. Und zurück bleibt graue Asche." (23)
Im folgenden Hauptteil des Bandes führt Schneider zunächst in die Entstehung und begleitenden Ereignisse von Susi Schmerlers Tagebuch und Briefen ein: Er steckt den zeitlichen Rahmen von März 1939 bis Mai 1941 ab, skizziert ihre Emigration, erläutert die Zusammenhänge des Schreibprozesses und liefert Hintergrundinformationen wie die zum zerrütteten Verhältnis zwischen den beiden Schwestern oder dem gänzlich neuen Kibbuz-Leben in Palästina, später Israel.
Die Aufzeichnungen Susi Schmerlers machen von Beginn an den Eindruck, dass der jungen Schreiberin die Tragweite des Erlebten klar war: "Es kommt wieder eine neue Epoche in meinem Leben." (38) Angesichts ihres Alters und ihrer eingeschränkten Perspektive betrieb sie keine Kulturgeschichtsschreibung im Sinne Haffners oder Klemperers in diesen Jahren. Sie beschäftigte primär ihre ungeklärte Zukunft in der Fremde, das Schicksal der Eltern und des geliebten Bruders, denen sie sehnsüchtige Briefe schickte; auch kreiste sie wiederholt um einen jungen Mann namens Gelle, in den sie verliebt zu sein schien. Und doch bleibt es nicht bei bloßen Befindlichkeiten: Sie erinnerte an das Bochumer Leben (vgl. 38f.) und schuf dabei schriftliche Mahnmale für Freunde von früher, wie den verstorbenen Zionisten Oskar oder Max, an dem "alles [...] so becheint" (61), jiddisch für anmutig und witzig, gewesen sei. Schließlich schrieb hier eine politisch denkende junge Frau, die im Mai 1940 einen sowjetischen Kriegseintritt für möglich hielt oder wenige Wochen später nach der Besetzung Frankreichs durch Hitlers Wehrmacht ihre Hoffnungen ganz auf England und die USA setzte. Dass sich ihr persönliches Schicksal trotz des Verlusts ihrer geliebten Familie in eine so viel bessere Richtung wendet als bei Anne Frank, auf die hier zum letzten Mal verwiesen sei, zeigt, welche Zufälle bzw. in ihrem Fall glücklichen Umstände den Ausschlag für Unheil oder Rettung zu geben vermochten. Und es liest sich tröstlich, wenn Susi Schmerler an ihrem 18. Geburtstag im April 1941, als der Krieg seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hatte, Folgendes in ihr Tagebuch notierte: "Schön war der Tag heute. So ganz anders als in den letzten beiden Jahren. Warm und doch ein kühler Wind. Und diesmal war ich gesund und mir war so viel leichter zu Mute. Alles so ganz, ganz anders. Vielleicht soll dies ein guter Anfang zu einem besseren Leben gewesen sein." (74)
Es ist Schneiders Verdienst, Susi Schmerlers erzwungenes, von großem Verlust begleitetes Exil-Schicksal zugänglich gemacht zu haben. Dabei haben ihm seine persönlichen Begegnungen mit der Verfasserin, die in Palästina einen neuen Vornamen annahm und seit ihrer Hochzeit Schulamith Nadir hieß, sehr geholfen. Ebenso fließen Briefe der Eltern an die Tochter, Auszüge aus den Lebensgeschichten anderer Bochumer Juden sowie Aussagen und Briefe ihres Mannes ein, der schriftlich und im Gespräch mit Schneider die breite Quellenauswahl der Ausgabe komplettiert. Damit wird Schneider seinem Anspruch gerecht, die drastischen Auswirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft, festgemacht am historischen Fall der Zwangsausweisungen von 1938 und anhand beispielhafter biografischer Dokumente, zu veranschaulichen - also "ein angemessenes Lebensbild zu zeichnen" (8).
Anmerkungen:
[1] Die Tagebücher sind von der Unesco in den Bestand des Weltdokumentenerbes aufgenommen worden, für 2020 wird vom Verlag eine kritisch-wissenschaftliche Neuausgabe angekündigt. Über aktuelle Forschungsprojekte informiert die Website des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam: www.annefrank.org/de/museum/sammlung-und-forschung/historische-forschung/publikation-forschungsergebnisse.
[2] Hubert Schneider: Die "Entjudung" des Wohnraums. "Judenhäuser" in Bochum. Die Geschichte der Gebäude und ihrer Bewohner, Berlin u. a. 2010; sowie ders.: Leben nach dem Überleben. Juden in Bochum nach 1945, Berlin u. a. 2014.
[3] Dieser Vorläufer ihres Tagebuches wurde von der Verfasserin 1995 dem Verein "Erinnern für die Zukunft Bochum e. V." in Kopie übergeben, für die kommentierte Erstpublikation zeichnete 1997 Jens Brockschmidt verantwortlich: Bericht Susi Schmerlers über ihre Ausweisung aus Deutschland und den Aufenthalt in Zbąszyń, in: SACHOR. Zeitschrift für Antisemitismusforschung, jüdische Geschichte und Gegenwart, Heft 7 (1997), 63-66.
Benedikt Faber