Elke Hammer-Luza: Im Arrest. Zucht-, Arbeits- und Strafhäuser in Graz (1700-1850) (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband; 63), Wien: Böhlau 2019, 556 S., 31 s/w-Abb, 18 Tbl., ISBN 978-3-205-23199-8, EUR 85,00
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Reiner Schulze / Thomas Vormbaum / Christine D. Schmidt / Nicola Willenberg (Hgg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung, Münster: Rhema Verlag 2008
Karl Härter / Gebhard Sälter / Eva Wiebel (Hgg.): Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2010
Miriam Rieger: Der Teufel im Pfarrhaus. Gespenster, Geisterglaube und Besessenheit im Luthertum der Frühen Neuzeit, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011
Die österreichischen Zucht- und Arbeitshäuser der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts dürfen seit den Veröffentlichungen von Hannes Stekl, Gerhard Ammer, Alfred Stefan Weiß und anderen als relativ gut erforscht gelten. An die Studie von Elke Hammer-Luza richtet sich deshalb unweigerlich die Frage, was diese über den bereits erreichten Erkenntnisstand hinaus an Neuem bereithält. In der Einleitung werden einige Aspekte benannt, die die Autorin als Leerstellen der bisherigen Forschung identifiziert. Ein detaillierter Einblick in die Geschichte der Grazer Anstalten steht dabei an erster Stelle. Neben diesem regionalgeschichtlichen Anliegen möchte die Arbeit auch einen Beitrag zur mikrogeschichtlichen Erforschung des Anstaltsalltags leisten. Und nicht zuletzt beabsichtigt sie - und hier dürfte ihr größter Innovationswert liegen - eine vergleichende Betrachtung unterschiedlicher Institutionen der Einsperrung in der Hauptstadt der Steiermark. Neben der Festung auf dem Schlossberg sind dies das Jagdschloss Karlau (ab 1809), das Zucht- und Arbeitshaus am Gries (eröffnet 1734), das Rathaus, das "Kriminal" genannte Gefängnis (ab 1829) sowie weitere Standorte, die kürzere oder längere Zeit als Arbeitshäuser dienten.
Im Aufbau ist die Studie klassisch und setzt mit einer Betrachtung der einzelnen Anstalten, ihrer institutionellen Einbettung und den jeweiligen Transformationen vom beginnenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Berührt wird dabei auch die Finanzierung, der neuralgische Punkt zahlreicher Gründungen, nicht nur in Österreich. In Graz bestanden die Einkünfte vor allem aus Kostgeldern, die von den Landgerichten zu entrichten waren, aber auch aus Geldstrafen, einer Vergnügungssteuer, die u.a. Opernliebhaber und Kaffeehausbesucher traf, sowie Spenden und milden Stiftungen. Diese vielfältigen Ressourcen änderten freilich nichts an der Tatsache, dass die Anstalten chronisch defizitär waren (65). Und auch die - zumindest im Diskurs des 18. Jahrhunderts immer wieder in Anschlag gebrachte - Arbeit der Insassen war kein Remedium (vgl. 205-208). Der anschließende Blick auf die Räumlichkeiten der Anstalten offenbart ein aus anderen Regionen bekanntes reiches Sample von Umnutzungen bereits vorhandener Gebäude, aber auch Neubauten, zu denen prominent das Zucht- und Arbeitshaus der Stadt gehörte. Intensiv diskutiert die Autorin Kriterien wie die Standortwahl und die Raumstruktur im Inneren und kann so nachweisen, dass auf der räumlichen Ebene trotz Pragmatik und Sachzwängen "Innovationen" möglich blieben (99). Das verhinderte allerdings nicht, dass auch in Graz allbekannte Probleme wie Platzmangel und inadäquate Raumstrukturen die Regel waren. Das hatte jedoch nicht - wie dies noch die ältere Forschung annahm - mit den konzeptionellen Unzulänglichkeiten der Zeitgenossen zu tun, sondern mit einer unzureichenden Ressourcenausstattung, die auch dem aktuellen Strafvollzug nicht unbekannt ist.
In den beiden folgenden Kapiteln werden intensiv die Arbeitsorganisation und das Anstaltspersonal beschrieben (Anstaltsleitung, Wächter, Wirtschaftspersonal, Mediziner, Geistliche usw.), wobei zum Teil höchst aufschlussreiche Einblicke in die Lebensverhältnisse der Beamten, ihre wirtschaftliche und soziale Situation, aber auch die Konflikte, die sie untereinander austrugen, gelingen. Daran schließt sich eine Analyse der Insassen an, die nicht nur entlang der einzelnen Institutionen aufgeschlüsselt, sondern auch hinsichtlich übergreifender sozialer Kriterien untersucht werden. Dass die dabei erzielten Ergebnisse - die meisten Insassen waren jung, ledig und entstammten den unteren sozialen Schichten, Frauen fanden sich wegen eines liederlichen Lebenswandels oftmals im Arbeitshaus wieder, während kriminell gewordene Männer im Zuchthaus dominierten, bei den Delikten herrschten Eigentumsvergehen vor usw. - den Resultaten von Untersuchungen zu vergleichbaren Einrichtungen entsprechen, überrascht nicht. Dennoch wäre es hier (wie im Übrigen auch in anderen Teilen der Arbeit) hilfreich gewesen, zur besseren Einordnung der erhobenen Daten Befunde zumindest anderer österreichischer Anstalten der Zeit einzubeziehen.
Ein letztes großes Kapitel (das fast ein Viertel des Textes ausmacht) ist schließlich dem Anstaltsalltag gewidmet. Neben Aspekten, die eher organisatorische Fragen berühren (etwa der Tagesablauf, die Verköstigung der Insassen, die Anstaltskleidung, die Sorge um Hygiene und Sauberkeit usw.), interessieren hier vor allem die Schilderung der sozialen Interaktionen zwischen den Insassen und ihrer Handlungsspielräume im Prozess von Disziplinierung und Gehorsamsproduktion. Wie in den anderen Teilen des Buches ist der Duktus freilich auch hier vor allem beschreibend. Die zahlreich geschilderten Ausbruchsversuche, Widerständigkeiten oder Geselligkeitsformen zwischen Insassen bleiben weitgehend ohne weitere analytische Durchdringung. Zwar liest sich ein Satz wie: "Die Grazer geschlossenen Häuser waren Häuser voll Leben und Kommunikation" (420) wie ein ganzes Forschungsprogramm, mit dem sich immer noch dominante Meinungen der älteren Literatur revidieren ließen. Darum geht es der Autorin jedoch erkennbar nicht.
Abschließend bleibt deshalb der Eindruck, dass sich Elke Hammer-Luzas quellengesättigte Studie zuerst an ein regionalgeschichtlich interessiertes Publikum richtet. Über dieses hinaus erweckt insbesondere ihr institutionell vergleichender Ansatz Interesse. Allerdings verliert sich dieser aufgrund eines fehlenden theoretischen Rahmens immer wieder im Detail. Übergreifende Erklärungsansätze, die über die von der kriminalhistorischen Forschung seit langem betonte "Kluft zwischen Norm und Praxis" hinausgehen, sind hingegen nur schwer auszumachen. Zwar nennt die Einleitung kurz die "Überväter" des Feldes (Weber, Oestreich, Goffman, Foucault) und würdigt sie kritisch, als ein Beitrag zu den mit ihnen verbundenen Debatten aber versteht sich die Studie offenbar nicht. Auch die Zusammenfassung, die die wichtigsten empirischen Befunde noch einmal referiert, schafft in dieser Hinsicht keine Abhilfe. Das soll die Leistung der Autorin, die es sich in erster Linie zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichte der Grazer Anstalten detailliert zu beschreiben, nicht schmälern. Die Einordnung der von ihr zusammengetragenen Fakten, die reiches Material insbesondere für die vergleichende Forschung bereitstellen, in einen größeren Zusammenhang bleibt freilich anderen überlassen.
Falk Bretschneider