Domokos Kosáry: Ungarn und die internationale Politik 1848-1849. Übersetzt und eingeleitet von Andreas Oplatka. Herausg. von Andreas Oplatka und Franz Adlgasser (= Studien zur Geschichte des österreichisch-ungarischen Monarchie; Bd. 36), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2017, 592 S., ISBN 978-3-7001-7966-5, EUR 89,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Geschichte der ungarischen Revolution und des Freiheitskrieges gehört zu den "großen" Themen der ungarischen Historiografie. Allein zum 150. Jahrestag dieses Ereignisses erschienen über 250 Veröffentlichungen. Die Revolution gilt als ein zentraler Wendepunkt in der ungarischen Geschichte und als konstitutives Element nationaler Identität. Daher verwundert es wenig, dass in den Publikationen der hungarozentrische Fokus dominiert. Das nun in deutscher Sprache posthum erschienene Spätwerk des ehemaligen Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Domokos Kosáry (1913-2007), setzt sich mit diesem Thema aus internationaler Sicht auseinander. Kosáry nimmt in 23 Kapiteln nicht nur laufend Perspektivwechsel vor, sondern nähert sich auch präzise und detailgesättigt mit wechselnder Tiefenschärfe seinem Ziel, die Wirkungsmechanismen der internationalen Politik auf Ungarn darzustellen. Dabei vergleicht er mit intellektuellem Scharfsinn die unterschiedlichen politischen Erwartungen, Interessen, Enttäuschungen in einer Zeit des Umbruchs. Kosáry verlässt die ausgetretenen ideologischen Deutungspfade, die insbesondere in der Zeit des Staatssozialismus die Rolle des "Vaters Kossuth" zum visionären Revolutionär und Freiheitskämpfer verklärten, und weitet die Perspektive hin zu einer vernetzten multiperspektivischen, internationalen Betrachtung der Ereignisse. Dabei geht er von dem Paradigma aus, dass die Vorgänge in Ungarn in großer Abhängigkeit von gesamteuropäischen Entwicklungen gestanden hätten. Nicht selten kritisch ist sein Blick auf die Politik des Wiener Hofes. Das hindert ihn jedoch nicht daran, die romantisch konnotierte ungarische Sichtweise auf die Revolution immer wieder in Frage zu stellen.
Der Autor besticht mit einer überragenden Detailkenntnis der Politik und der Strategien der damaligen Großmächte, der Nachbarn Ungarns, aber auch der unterschiedlichen "nationalen" Bewegungen im Königreich Ungarn selbst. Immer wieder werden sowohl die Haltungen der unterschiedlichen Länder, Mächte, Bewegungen und Diplomaten bis in kleinste Verästelungen als auch die Auswirkungen ihrer Aktivitäten analysiert. Insbesondere zwei Akteuren gilt seine mehrfach bekundete Bewunderung: dem Staatsreformer István Graf Széchényi (zum Beispiel 47, 219, 220, 522) und László Graf Teleki, der ab August 1848 in Paris als Chefdiplomat die Sache der ungarischen Revolution vertrat (zum Beispiel 158, 329, 522).
Kosáry setzt sich dabei nicht primär mit der Geschichte der Revolution und des Freiheitskampfes näher auseinander, sondern deutet diese im Licht der internationalen Politik; es werden daher Kenntnisse über diesen bedeutsamen Abschnitt der ungarischen Geschichte vorausgesetzt. Der Verfasser vermittelt dennoch tiefe Einblicke in den ungarischen Diskurs (Kapitel 17). Für ihn handelte es sich nicht um eine gescheiterte, vergebliche Revolution, "die Anstrengungen und die Opfer" seien nicht "ergebnislos" gewesen. Nur so sei es gelungen, die "Feudalordnung" zu überwinden. Außerdem sei es zu einer "außerordentliche[n] Entfaltung von Kräften" der vorher "beinahe unbekannte[n] Nation" gekommen, die sie "zu einem internationalen politischen Faktor machte" (520 f.).
Zweifellos liegt die Stärke des Buches in der detailgesättigten, überaus kenntnisreichen Darstellung und Interpretation der komplexen Auswirkungen internationaler Politik. Gleichwohl wäre es wünschenswert gewesen, die "Puzzleteile" der mitunter wenig verzahnten einzelnen Kapitel besser zu verknüpfen. So wirken sie nicht selten wie solitäre, faktengeschwängerte inhaltliche Blöcke, und es bleibt dem Leser überlassen, sich die inhaltlichen Anschlussstellen zu merken. Überleitungen zum nächsten Kapitel fehlen in aller Regel (Ausnahme etwa Kapitel 20/21). Als Auftaktkapitel, Einleitung und zum Gesamtverständnis wären sicherlich die Kapitel 15 "Nationen und Reiche in Ostmitteleuropa" und 17 "Die Ungarn und die benachbarten Nationen" nicht deplatziert gewesen. Auch bleibt die Geschichte der nicht unerheblichen deutschen Minderheit im Königreich fast gänzlich unberührt; das hätte wohl zusätzlicher Grundlagenforschung bedurft. Dessen ungeachtet bleibt jedoch der Eindruck eines beachtlichen, großen Werkes haften.
Karl-Peter Krauss