Tatjana Tönsmeyer / Peter Haslinger / Agnes Laba (eds.): Coping with Hunger and Shortage under German Occupation in World War II, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2018, xix + 319 S., ISBN 978-3-319-77467-1, 83,29
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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In der europäischen Gedenkpolitik nimmt der Holocaust als gemeinsames europäisches Ereignis einen wichtigen Stellenwert ein. Die Erfahrungen der Gesellschaften unter deutscher Besatzungsherrschaft treten demgegenüber in den Hintergrund, obwohl sich hier zahlreiche Gemeinsamkeiten ergäben. Andererseits kann von tatsächlich gleichen Schicksalen kaum die Rede sein, wie dieser Sammelband eindrucksvoll belegt. Das vergleichsweise schmale Buch zeigt ein reiches Panorama, das keinen systematischen Überblick anstrebt, aber doch vielfältige Einblicke erlaubt. In geografischer Hinsicht reicht es von Belarus und Norwegen bis nach Griechenland und in den Nordkaukasus; Italien, Frankreich, Belgien, Polen, Böhmen und Mähren sowie Litauen werden ebenfalls thematisiert, wobei es teils um die gesonderte Situation der jüdischen Minderheiten geht.
Die Herausgeber konnten dafür Expert/inn/en vorwiegend aus den jeweiligen Ländern gewinnen, wobei es sich in der Mehrzahl um jüngere Historiker/innen handelt, die gerade an größeren Studien zum Thema arbeiten. Die Folge sind quellengestützte Beiträge auf hohem Niveau, die vielfache neue Erkenntnisse bieten. Als Konsequenz musste allerdings eine englischsprachige Publikation gewählt werden, was in einem nachgerade prohibitiven Preis resultiert, der einmal mehr die Dringlichkeit alternativer Veröffentlichungsmöglichkeiten für Sammelbände vor Augen führt.
Im Grunde ist dies aber auch die einzige Kritik, die an dem Buch geübt werden kann. Tatjana Tönsmeyer hat es mit einer klugen Einführung versehen. Ihre konzeptionellen Überlegungen machen deutlich, wie sehr eine Synthese und ein Vergleich der Erfahrungen unter deutscher Besatzung nach wie vor fehlen. Zwar gibt es zahllose Einzel-, Detail- und Lokalstudien, die oft nur in den jeweiligen Nationalsprachen vorliegen, aber ganz Europa gerät - wenn überhaupt - eigentlich nur aus der Perspektive der Okkupanten in den Blick. Dem allerdings verweigert sich dieser Band. Er interessiert sich weder für die makroökonomischen Aspekte der Ausbeutung noch für die nationalsozialistische Kriegswirtschaft - mit der Ausnahme des Knochen-Recyclings in Deutschland und Frankreich, das Chad Denton und Heike Weber untersuchen -, sondern für eine Sozialgeschichte der Menschen, die darunter leiden mussten. Auch die Deutschen im Reich, die in vielerlei Weise vom Hunger der anderen profitierten, bleiben außen vor.
Die Auswirkungen von Hunger, Inflation und Schwarzmarkthandel sowie die damit einhergehende Not von Nichtdeutschen stehen im Fokus des Bandes. Die daraus resultierende Desintegration von Gesellschaften und die Auflösung sozialer Kohäsion sind das eigentliche Erkenntnisinteresse der Herausgeber. Und in der Tat führten alltägliche Probleme wie die Frage, wer kaufen darf und wer überhaupt kaufen kann - und wie viel -, zu ganz neuen Hierarchien: Körperliche Arbeit etwa war auf einmal mehr "wert" als diejenige von Akademikern; doch Vorwürfe von Kollaboration, die eine Tätigkeit im deutschen Interesse beinahe automatisch nach sich zog, relativierten diese Entwicklungen zumindest teilweise und vertieften zugleich die gesellschaftlichen Verwerfungen. Dazu trug auch die meist grassierende Inflation bei, selbst wenn der Schwarzmarkt geschickten Händlern und Schmugglern ganz neue Verdienstmöglichkeiten eröffnete und, so der Beitrag von Jerzy Kochanowski, durchaus Qualitäten einer Ersatzökonomie entwickelte. Gleichzeitig mussten viele Besitzende ihre Habseligkeiten für etwas Essbares verschleudern, während wieder andere zu "survival sex" gezwungen waren, was Maren Röger am Beispiel Polens zeigt.
Die Transformation des Alltags hin zu einem täglichen Kampf ums Überleben, mit moralischen Dilemmata wie der Frage, ob eher Alte oder eher Kinder versorgt werden sollten, wie Violetta Hionidou für Griechenland zeigt, ließ sich mit der Befreiung nicht schlagartig rückgängig machen. Ganz im Gegenteil bestimmten Hungerökonomien oft noch bis Ende der 1940er Jahre das Leben der Menschen, freilich nun unter moralisch anderen Vorzeichen: "Kollaborateure" erhielten ihre "gerechte" Strafe, eine erneute Umwertung staatlich erwünschter Aktivitäten, die entsprechend belohnt wurden, fand statt.
Solidarität und Hilfe blieben weiterhin Prüfstein für das Verhalten gegenüber anderen Gruppen - sei es sozialer oder ethnischer Art. Und selbstverständlich ist das von den Nationalsozialisten betriebene "Othering", das rassische Ausgrenzen, insbesondere am Falle der Juden zu betrachten. Dass deren Möglichkeiten zum Tauschhandel, zur Arbeit und letztendlich zum Überleben geringer waren als die von Nichtjuden, ist hinlänglich bekannt. Dennoch sind die Fälle Lemberg und Wilna, die Natalia Aleksiun und Joachim Tauber betrachten, höchst instruktiv: Sie zeigen wie durch ein Brennglas, dass die verordnete Hierarchisierung stets die Juden am schlimmsten traf und ihnen am wenigsten Spielraum ließ; demgegenüber waren die durch die Deutschen ansonsten verursachten sozialen Verwerfungen zwar von großer Härte geprägt, aber in weiten Teilen doch innergesellschaftliche Aushandlungsprozesse.
Wie Ingrid de Zwarte für den niederländischen Hungerwinter 1944/45 belegt, mussten diese Entwicklungen nicht immer nur negative Konsequenzen haben: In Holland begann eine konzertierte zivilgesellschaftliche Initiative zur Kinderversorgung, die in den letzten Kriegswirren nicht mehr vom alten Kollaborationsregime und noch nicht vom neuen, freien Staat geleistet werden konnte. Derartige Hilfe, die nicht notwendigerweise Widerstand bedeutete, war so selten nicht (in Polen etwa die Rada Główna Opiekuńcza sowie für die jüdischen Ghettoinsassen die Yidishe Sotsyale Aleynhilf), findet in diesem Sammelband aber keinen weiteren Niederschlag.
In jeder Hinsicht war das Kriegsende viel weniger Zäsur als bis heute weithin angenommen. Die angedeuteten sozialen Verwerfungen erfordern deshalb übergreifenden Untersuchungen, wie sie Martin Broszat mit dem von ihm mit herausgegebenen Band "Von Stalingrad zur Währungsreform" (1988) angestoßen hat. Diese wegweisende Studie fand allerdings zu wenig Nachahmer, und auch der vorliegende Band beschränkt sich auf die Kriegszeit selbst und deutet deren Folgen nur vereinzelt an. Allerdings ist das eine ganz wesentliche Funktion von Sammelwerken: Zwischenbefunde zu bündeln, neue Forschungsfragen zu stellen und weitergehende Perspektiven zu eröffnen. Das gelingt ganz hervorragend, selbst wenn in dieser Hinsicht eine Zusammenfassung oder Übersicht über die Beiträge hilfreich gewesen wäre und das europäische Panorama einmal mehr nur in Form von - ganz ausgezeichneten - Fallstudien gezeigt wird.
Stephan Lehnstaedt