Stefan Rinke / Kay Schiller (eds.): The FIFA World Cup 1930-2010. Politics, Commerce, Spectacle and Identities, Göttingen: Wallstein 2014, 408 S., ISBN 978-3-8353-1457-3, EUR 39,90
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Aus der Fülle von Sportgroßereignissen ragen Fußball-Weltmeisterschaften heraus. Kein (Sport-)Event generiert mehr Gelder, erzeugt stärkere Aufmerksamkeit und erzielt eine umfassendere mediale Verbreitung als die Weltmeisterschaften im Männerfußball. Zugleich wird kaum ein anderes Sportereignis für mehr Interessen beansprucht als die unter der Ägide des Weltfußballverbands FIFA - mit Ausnahme der Weltkriegsunterbrechung - seit 1930 im vierjährigen Turnus durchgeführten Weltspiele des Fußballs. Umso bemerkenswerter ist es, dass bislang keinen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung vorlag, die sich mit der Entstehung, Genese und Ausgestaltung von Fußballweltmeisterschaften von ihren Anfängen bis zur Gegenwart befasst. Der vom Lateinamerikahistoriker Stefan Rinke und vom Zeithistoriker Kay Schiller herausgegebene Sammelband füllt diese Lücke nunmehr mit Beiträgen, die die 19 Weltmeisterschaften zwischen 1930 (Uruguay) und 2010 (Südafrika) in Einzelbeiträgen beleuchten, wobei die beiden in Mexiko ausgerichteten Weltmeisterschaften (1970 und 1986) in einem Beitrag behandelt werden. Zudem befassen sich zwei weitere Beiträge mit der Globalisierung (David Goldblatt) und der Organisationsentwicklung der FIFA (Alan Tomlinson) als rahmende Kontextualisierungen.
Die Beiträge, die auf eine im FIFA-Hauptquartier in Zürich durchgeführte Tagung zurückgehen, jedoch frei von Rücksichtnahmen auf den Weltfußballverband verfasst sind, folgen keinem strikt systematischen Raster. Sie nehmen aber durchgehend neben dem sportlichen Geschehen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen des Sports näher in den Blick. Deutlich wird dabei, dass die Ausrichtung von Weltmeisterschaften zu Beginn vor allem ein Projekt zur Durchsetzung des globalen Fußballmonopols der FIFA war, dass aber auch die Spannungen zwischen den beiden wichtigsten Fußballkontinenten Lateinamerika und Europa das Ereignis jahrzehntelang beeinflussten. Neben der FIFA waren es die ausrichtenden Staaten und Verbände, die in erheblichem Maße die einzelnen Weltmeisterschaften prägten. Eine direkte politische Einflussnahme durch Machthaber und Regierungen erfolgte nicht nur in den Diktaturen Italiens (1934) oder Argentiniens (1978), sondern war bei auch bei zahlreichen weiteren Weltmeisterschaften auszumachen. Dass Weltmeisterschaften u.a. zur Modernisierung des Ausrichterlandes, zur nationalen Aussöhnung, zur Stiftung von Integration, zur Durchsetzung von Demokratie oder auch zum Nation-Branding und zur Tourismusförderung in Anspruch genommen wurden, dokumentieren die Einzelbeiträge überzeugend. Darüber hinaus werden aber auch antagonistische Kräfte und Proteste sowie Ausgrenzungsprozesse thematisiert, die Fußball-Weltmeisterschaften vielfach zu einem umkämpften Terrain machten. Ein Blick auf die Fußballweltmeisterschaft 2016 in Brasilien in einer Neuauflage würde diese Perspektive vertiefen. Anders als bei Olympischen Spielen führte der Protest aber nie so weit, dass Fußball-Weltmeisterschaften boykottiert wurden. Schließlich wird in zahlreichen Einzelbeiträgen auch gefragt, was von den einzelnen Weltmeisterschaften als "Erbe" geblieben ist - sowohl in materieller als auch in mentaler Perspektive. Die Antworten fallen dabei höchst unterschiedlich aus und zeigen, wie stark dieses globale Sportevent von nationalen Eigenarten geprägt ist.
Die Darstellung der einzelnen Weltmeisterschaften in einem Band sowie die von einem internationalen Team professioneller Fachhistoriker durchweg kundig, thesenfreudig und zumeist auch quellengestützt verfassten Einzelbeiträge machen den Band zu einer anregenden Lektüre. Die Publikation bietet nicht nur zahlreiche neue Detailinformationen jenseits bekannter Anekdoten, sondern sie bündelt in der Zusammenschau die Ereignisgeschichten zu einer überzeugenden Gesamtbetrachtung. Dem Leser wird dabei im Lichte des Buchtitels das nicht ganz überraschende Narrativ eines sich sukzessive herausbildenden Sport- und Medienspektakels präsentiert, das unter dem Einfluss beständiger politischer Instrumentalisierung stand.
Dieser Erklärungsansatz ist tragfähig, könnte aber noch stärker komparativ betrachtet werden und um weitergehende Perspektiven ergänzt werden: Bedeutsam ist die Frage nach den Veränderungen im Verhältnis von FIFA und nationalem Ausrichter. Sportwissenschaftlich stellt sich die Frage, inwieweit Weltmeisterschaften zu einer Veränderung der Spielweisen und Stile im Fußball beigetragen haben. Mediengeschichtlich drängt sich die Frage nach den technischen Veränderungen bei der Inszenierung des Ereignisses auf. Aus Verbandsperspektive wäre es interessant zu erörtern, warum frühere Bewerbungen der späteren Ausrichter von Weltmeisterschaften gescheitert sind, so etwa Argentiniens Bewerbung für 1962 oder die Bewerbung der USA für 1986. Nicht zuletzt verdient auch das Verhältnis von nationalen Fußballverbänden und staatlichen Akteuren weitergehende Beachtung.
Für künftige Darstellungen zur Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften bleibt mithin noch manches Problemfeld zu bearbeiten. Der umfassende Sammelband von Rinke und Schiller bietet dafür eine unverzichtbare und äußerst lesenswerte Grundlage.
Jürgen Mittag