Rezension über:

Ferdinand Sutterlüty / Matthias Jung / Andy Reymann (Hgg.): Narrative der Gewalt. Interdisziplinäre Analysen, Frankfurt/M.: Campus 2019, 304 S., 13 s/w-Abb., 2 Kt., zahlr. Tbl., ISBN 978-3-593-50933-4, EUR 34,95
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Rezension von:
Christoph Mauntel
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Mauntel: Rezension von: Ferdinand Sutterlüty / Matthias Jung / Andy Reymann (Hgg.): Narrative der Gewalt. Interdisziplinäre Analysen, Frankfurt/M.: Campus 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 12 [15.12.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/12/33412.html


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Ferdinand Sutterlüty / Matthias Jung / Andy Reymann (Hgg.): Narrative der Gewalt

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Gewalt muss erzählt werden, so die Ausgangsprämisse des vorliegenden Bandes. Dies gelte, so die Herausgeber, sowohl für alltägliche Erzählungen mit eher impliziten Konstruktionsregeln als auch für wissenschaftliche Narrative, die ihre Prämissen im Idealfall offenlegen sollten. Derartige Narrative legen nicht nur die Rollen der Akteure und zeitliche Fixpunkte (Anfang, Ende) fest, sondern konstruieren zudem sinnstiftende Strukturen und Kausalitäten. Mit entsprechendem methodischem Rüstzeug ausgestattet geht der Band die Frage nach Narrativen der Gewalt in acht Aufsätzen an, auf die jeweils ein Kommentar aus interdisziplinärer Sicht folgt. Dieser Aufbau darf nicht nur als innovativ gelten, sondern auch als gelungen: Die Diskussionen der Tagung ("Kulturen und Ordnungsformen der Gewalt", Frankfurt, 23.-24.11.2017), auf der die Beiträge beruhen, werden so festgehalten und dem Leser offengelegt.

Wolfgang Knöbl setzt sich kritisch mit dem 'situationistischen' Paradigma der Gewaltforschung auseinander (31-49). Wer nur auf spezifische Situationen und Kontexte schaue, in denen Gewalthandeln sich entwickle, dem gehe die Makro-Perspektive verloren, so Knöbl. Kritisch sieht er, dass immer mehr Fallstudien nach demselben Prinzip ohne methodischen Mehrwert produziert würden. Als Ausweg schlägt er vor, den Fokus auf institutionalisierte Gruppen und ihre Dynamiken zu legen. In seinem Kommentar verweist Reinhard Berbeck darauf, dass man den Aspekt der kulturellen Gebundenheit von Gewalt nicht vernachlässigen dürfe und zudem in der Forschung der Blick zu selten auf die Perspektive der Opfer von Gewalt gelenkt werde.

Ob Kriege Katalysatoren gesellschaftlicher Umbrüche sind, fragt Axel T. Paul (59-78). Er setzt sich dabei mit der These Barbara Kuchlers auseinander, nach der sich Kriege nur in Abhängigkeit von der Gesellschaftsstruktur verstehen lassen. Pauls vom Neolithikum bis heute reichende Analyse, wer Kriege aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln führte, kann seine These, Kriege als "Lokomotiven der Geschichte" zu deuten, jedoch letztlich nicht plausibel machen, wie anschließend Ingo Schrakamp kommentiert. Als Mediävist mag man hinzufügen, dass es anders als von Paul dargestellt, auch vor 1648 eine nachweisbare Unterscheidung zwischen Kriegen und Bürgerkriegen gab (72).

Francisca Loetz setzt sich kritisch mit Meta-Erzählungen über Gewalt in der Geschichte der Menschheit auseinander (87-113). Der entsprechenden Forschung wirft sie vor, die Menschheitsgeschichte auf den linearen Verlauf von Tötungsraten zu reduzieren, während historische Analysen eigentlich nach sozialen Funktionen fragen müssten - dies tut sie selbst am Beispiel interpersoneller Gewalt im frühneuzeitlichen Europa und zeigt so die Zeitgebundenheit ethischer Vorstellen auf: So wurde etwa Suizid als Tötungsdelikt gewertet. Ferdinand Sutterlüty merkt dazu kritisch an, dass Gewalt, anders als Loetz' Blick aus der Sicht der Kriminalakten suggeriere, nicht grundsätzlich als illegitim und justiziabel bewertet werde. Fragen der Legitimität zunächst außen vor zu lassen sei die Stärke eines rein deskriptiven Gewaltbegriffs, wie ihn Gertrud Nummer-Winkler vorgeschlagen habe.

Einen Blick auf den Zusammenhang von Bewaffnung und gesellschaftlicher Organisation bietet Christian Feest (125-154) und verbindet damit ein Votum für die Bedeutung der materiellen Kultur - hier der Waffen. Seinen Vergleich von 21 Gesellschaften und ihren Waffen sieht er selbst allerdings skeptisch: weil die verfügbaren Daten den Ansprüchen teils nicht genügen, weil einige Kennzahlen fragwürdig für einen interkulturellen Vergleich seien, weil die genutzten Angaben nicht immer eindeutig seien (133-135). Seine Eingangsthese, dass komplexere Gesellschaften sich durch differenziertere Waffen auszeichnen würden, sieht er nicht bestätigt. Mit seiner Kritik am Narrativ des professionellen Kriegers in der Archäologie weist Jan-Heinrich Bunnefeld im Anschluss auf einen für den Band besonders wichtigen Punkt hin: Allzu leicht würden Waffenbeigaben in Gräbern als Hinweis auf professionalisierte Kriegerkulturen gedeutet, ohne dass zum Beispiel klar sei, wieviel Zeit ein Individuum tatsächlich unter Waffen verbracht habe.

Aus ethnologischer Sicht untersucht Jürg Helbling Kriege in tribalen Gesellschaften und geht nacheinander Formen, Zielen, Folgen, Ursachen sowie Kriegergruppen und deren Allianzen nach (167-195). Kriege und Allianzen zwischen Dorfgemeinschaften waren ubiquitär, während Konflikte innerhalb der Gemeinschaft zumeist friedlich beigelegt werden konnten. Matthias Jung kritisiert dabei in seinem Kommentar, dass der Blick auf gewaltsame Konflikte verstelle, dass Dorfgemeinschaften vor und nach Auseinandersetzungen Nachbarn waren und vielfältige soziale und kulturelle Bindungen hatten.

Prozesse oder Strukturen, mit denen erlebte Gewalt bewältigt werden konnte, interessieren Stefan Burmeister (207-230), der einen der anregendsten Beiträge beisteuert. Gestützt auf einen Abriss der Traumatheorien Jonathan Shays untersucht Burmeister Rituale nach Kriegsende, die, so seine These, zur psychologischen Bewältigung von Gewalt gedient haben, sogenannte post battle processes. Sowohl textlich als auch archäologisch nachweisen lassen sich z.B. Gewaltexzesse nach dem Ende des eigentlichen Kampfes oder auch Opferzeremonien. Grundsätzlich überzeugt von Burmeisters Ideen steuert Daniel Föller mit den Bußübungen karolingischer Kämpfer ein weiteres Beispiel aus dem mittelalterlichen Europa bei.

Für die Mediävistik wiederum konstatiert Stefanie Rüther nur zaghafte Ansätze einer Gewaltforschung (241-257). Die Autorin geht dabei mit ihrer eigenen Zunft hart ins Gericht und kritisiert, es würden anstelle spezifischer Fallanalysen zumeist nur Narrative der Ordnungsstiftung angewandt, die "von siegreichen Königen, ritterlichen Fehden oder friedliebenden Städten" (243) handeln würden. 'Gewalt' werde nicht als eigenständiges Phänomen, sondern nur als Begleiterscheinung behandelt. Mithin überlagern tradierte Erzählungen die eigentlichen Befunde der Quellen, so Rüther. Swantje Bartschat ergänzt dieses Plädoyer in ihrem Kommentar um entsprechende Probleme der Islamwissenschaft.

Teresa Koloma Beck denkt abschließend auf der Grundlage eines zweimonatigen Aufenthalts in Kabul über Gewalträume im Alltag nach (267-293) und gesteht gleich zu Anfang, dass sie ihre eigene Frage grundlegend neu perspektivieren musste, denn die Bewohner Kabuls würden sich nicht für Gewalt, sondern für Sicherheit interessieren. Mit dieser Verschiebung geht einher, dass Bewohner nicht als passive Opfer gesehen werden, sondern vielmehr als ihren Alltag um Aspekte der Gefahrvermeidung organisierende Akteure. Beeindruckt zeigt sich auch Andy Reymann, der vom "methodischen Druck" (295) spricht, den Koloma Becks Perspektive interdisziplinär ausübe. Als Archäologe, so Reymann, müsse man sich fragen, welche Bedeutungen etwa Festungen im Bewusstsein der Menschen gehabt haben.

Die Stärke des Bandes liegt darin, dass die Beiträge sich auf der Höhe der Forschung mit aktuellen Prämissen, Problemen und Perspektiven der Gewaltforschung auseinandersetzen. Wer den Band in Gänze liest, dürfte gut über aktuelle Diskussionen informiert sein. Zu danken ist dies den Beiträgen selbst, die zumeist keine fachspezifischen Fallstudien, sondern problemorientierte und interdisziplinär anschlussfähige Analysen sind. Als einziger Kritikpunkt ist anzuführen, dass insgesamt weder eine Fokussierung auf Gewalt noch auf Narrative gelingt: Mit der Frage, was 'Gewalt' eigentlich ist, setzen sich nur wenige Autoren/innen auseinander; viele Beiträge behandeln denn auch schlicht den Krieg - nicht Gewalt. Auch die Einleitung hilft hier nicht und kreist fast ausschließlich um Fragen der Narrativität - ein Fokus, den wiederum die Beiträge nicht konsequent umsetzen. Dennoch liest man den Band mit Gewinn, legt er doch offen, wo die Forschung steht: Das Bemühen um eine Differenzierung von Kriminalität, Krieg oder Gewalt beschäftigt die Forschung ebenso, wie die verschiedenen hier diskutierten Methoden. Allen Mitforschenden und Interessierten seien die 'Narrative der Gewalt' sehr zur Lektüre empfohlen.

Christoph Mauntel