Adrian O'Sullivan: The Bagdad Set. Iraq through the Eyes of British Intelligence 1941-45, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, xxxvi + 326 S., ISBN 978-3-030-15182-9, USD 65,55
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Die Erforschung des Kriegsschauplatzes Mittlerer Osten im Zeitraum 1939 bis 1945 aus Sicht der kriegführenden Parteien wird aufgrund der Überlieferungslage zusehends schwieriger: Die wenigen direkten Kampfhandlungen, wie zum Beispiel der Einsatz der deutschen Luftwaffe im Mai 1941, sind weitgehend aufgearbeitet. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen ohne Quellenfunde kaum noch möglich. Allerdings boten Geheimdienste und Nachrichtenwesen bislang ein breites Betätigungsfeld für Grundlagenforschung. Mit seinem Buch über die britischen Geheimdienste in Persien hat Adrian O'Sullivan bereits Standards gesetzt. Jetzt liegt der Komplementärband für den Irak vor. O'Sullivan liefert mittels akribischer und ausgedehnter Archivstudien Ergebnisse, die so schnell wohl nicht überboten werden können. Damit ist diese Forschungslücke weitgehend geschlossen.
Wie schon in der Publikation zu Persien bietet der Autor eine ausführliche Darstellung der Geheimdiensttätigkeiten aus britischer Sicht. Nach Ausführungen zu den Bedingungen für die im Irak agierenden Personen, insbesondere auch zu den Problemen, als Spion zu gelten bzw. eine entsprechende Scheinidentität haben zu müssen, arbeitet der Autor alle wesentlichen Aspekte ab, meist aus Sicht des Empire, seiner Dienststellen und Organisationseinheiten sowie deren Personal. Die deutsche Seite wird ebenfalls berücksichtigt. Nach Lage der Dinge hat O'Sullivan alle geplanten bzw. ausgeführten Projekte der Abwehr sowie der Abteilung VI D (Auslandnachrichtendienst) des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) erfasst.
Anschaulich wird die Tätigkeit der britischen Organisationen, etwa der Special Operations Executive (SOE), des Secret Intelligence Service (SIS) oder der Field Security Sections (FSS) thematisiert. Die Zahl der Mitarbeiter und Agenten war gemessen an der Anzahl der involvierten Organisationen eher begrenzt. Folgerichtig nimmt O'Sullivan das dienstliche wie gesellschaftliche Netzwerk der Community, das "Bagdad Set", in den Blick. Der Ausdruck ist schwer ins Deutsche zu übersetzen, scheint auch im Englischen terminologisch nicht klar definiert zu sein. O'Sullivan umschreibt ihn wie folgt: "[...] a dense nexus of mingled social and occupational activity best described by the hybrid, multilevel concept of a set - 'the Baghdad Set' - populated by some exceptionally clever, talented individuals." (16) Vielleicht wäre "network" als Begriff verständlicher gewesen.
Die Tätigkeit des "Baghdad Set" bei Informationsbeschaffung, Spionage- und Sabotageabwehr sowie bei der Vorbereitung eigener Sabotageakte wird vom Autor, soweit es die Quellen zulassen, eingehend beleuchtet und bewertet, ebenso die Konkurrenz unter den Diensten oder Konflikte mit dem Foreign Office bzw. der Botschaft in Bagdad. Ein Kapitel behandelt das Wirken der "cousins" (221), d.h. der Amerikaner (Office of Strategic Services, OSS) in der Region.
O'Sullivan beschreibt das "Baghdad Set" überwiegend als Teil der etablierten Empire-Eliten, die sich in elitären Zirkeln gesellschaftlich zusammenfanden und aus diesem Netzwerk heraus nachrichtendienstlich tätig wurden. Besonders reizvoll ist, dass der Autor eine der großen Gestalten britischer Orientreisender, Freya Stark, prominent miteinbezieht. Stark war nach Auffassung von O'Sullivan weniger, wie andere Forscher und Biografen behaupten, aus "Orientromantik" oder entsprechender Begeisterung in den Irak gegangen, sondern als Teil jener Gruppe der britischen Oberschicht, die sich dem Orient im Dienst für das Empire verschrieben hatte. [1] Indes kommt zum Ausdruck, dass viele der Protagonisten nicht gerade das Idealbild arrivierter Mitglieder der Gesellschaft verkörperten, sondern unruhige Geister waren und teils Randgruppen angehörten. Ein Beispiel ist der enge Bekannte von Stark, Herbert Francis 'Adrian' Bishop (1898-42), Kriegsteilnehmer, Linguist, Abenteurer und Wanderer zwischen den Welten. Über die Motivation von Freya Stark und ihr Engagement im Orient lässt sich sicher streiten, nicht zuletzt, weil O'Sullivan ab einem bestimmten Punkt keine belastbaren Informationen liefern kann. Stark selbst äußerte sich kaum zu ihrer Geheimdiensttätigkeit, so dass letztlich unklar bleibt, wie intensiv sie involviert war.
Ganz anders als die britische operierte laut O'Sullivan die deutsche Seite. Letztere erzielte vor 1939 durchaus Erfolge bei der Einflussnahme im Irak, wie etwa die Tätigkeit des Konsuls Fritz Grobba zeigt. Durchaus konnte sie sich im Irak festsetzen und wurde von britischer Seite als Bedrohung gesehen. Indes änderte sich die Situation Anfang Juni 1941: Die Briten besetzten das Land; damit waren fast alle Vorteile auf Seiten der Briten und später der Amerikaner, auch wenn wegen des Vorrückens der Wehrmacht im Jahr 1942 bis nach Stalingrad noch die Sorge herrschte, die Deutschen könnten über den Kaukasus gelangen. Danach ging eine Gefahr für den Irak vom Kriegsgegner nicht mehr wirklich aus. Die wenigen deutschen Kommandounternehmen hatten, und hier urteilt O'Sullivan vollkommen richtig, kaum eine Chance auf Erfolg.
Insgesamt dürften nach diesem Werk wohl kaum neue Erkenntnisse für das Thema "Intelligence" im Irak und in Persien auf der Basis von Grundlagenforschung zu erwarten sein. So bleibt die Frage: wie weiter? Möglichkeiten liegen sicher in der Diskursanalyse, die O'Sullivan jedoch mit Hinweis auf seine Distanz zu den Ansätzen von Edward Said eher ablehnt. [2] Dennoch bietet das Werk Ansatzpunkte hierzu, so die Abschnitte zur Tribal und Political Intelligence. O`Sullivan schildert überzeugend, wie die Mitglieder der Intelligence-Community die Bevölkerung vor Ort wahrnahmen. Außerdem werden die bis heute nicht gelösten Differenzen zwischen Kurden und Arabern beleuchtet, gleichzeitig auch, wie sich dies in der individuellen Haltung der Mitarbeiter niederschlug. Diese sympathisierten meist mit der Bevölkerungsgruppe, für die sie jeweils zuständig waren, wobei sie teils in Konflikt untereinander gerieten. Ferner gibt es noch Möglichkeiten für vergleichende Arbeiten. Insbesondere könnte Freya Stark parallel zu deutschen Orientreisenden wie Ewald Banse oder Ludwig Ferdinand Clauß untersucht werden. Dazu müssten das Werk Freya Starks und ihr Lebensweg genauer unter die Lupe genommen und beleuchtet werden, welche Motivationen sie für ihre Reisen hatte und welches Bild sie von der Bevölkerung und der Region vermitteln wollte.
Derlei Vorhaben gehen über die methodischen Absichten des Autors jedoch hinaus. Das Werk ist ein Musterbeispiel für die Aufarbeitung der grundlegenden Zusammenhänge. Allerdings weist es einige Schwächen auf. Dazu zählt die gegen Ende stark harmonisierende Betrachtungsweise unter Einbezug der Agenten der deutschen Abwehr, die, so könnte man O'Sullivan interpretieren, als die "guten" Gegner im geheimdienstlichen Krieg galten; im Gegensatz zu anderen wichtigen Akteuren wie dem Großmufti von Jerusalem, dem deutschen Sicherheitsdienst (SD), der SS oder der Abteilung VI D des RSHA. Auch wird das in der britischen Literatur teils überstrapazierte Thema des "guten Willens" auf Seiten der Vertreter des Empire zur konstruktiven Aufbauarbeit und der besseren Alternative vor dem Hintergrund der gewaltsamen Entwicklung nach Ende der Kolonialherrschaft bemüht. Hier hätten die Widersprüche zwischen guter Absicht und den Realitäten der Kolonialherrschaft stärker problematisiert werden müssen. Derlei schmälert die Leistung des Autors jedoch kaum.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Jane Fletcher Geniesse: Passionate Nomad. The life of Freya Stark, New York 2001.
[2] Vgl. Geoffrey P. Nash (ed.): Orientalism and Literature, Cambridge 2019.
Bernd Lemke