Mandy Tröger: Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/90 den Osten eroberten, Köln: Halem 2019, 356 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-86962-474-7, EUR 25,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Tonia Sophie Müller: "Minderwertige" Literatur und nationale Integration. Die Deutsche Bücherei Leipzig als Projekt des Bürgertums im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Göttingen: Wallstein 2019
Kerstin Hohner: Abseits vom Kurs. Die Geschichte des VEB Hinstorff Verlag 1959-1977, Berlin: Ch. Links Verlag 2022
Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Forschungen zur Geschichte der "Nachwendezeit", die sich von der älteren westdeutschen Erfolgserzählung der Wiedervereinigung abgrenzen und stattdessen die Ambivalenzen im Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland hervorheben, haben Konjunktur. War die Transformation Ostdeutschlands bislang vorwiegend ein Terrain der empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften, ermöglicht die gegenwärtige Erschließung und Freigabe neuer Quellenbestände nun auch eine historische Rekonstruktion politischer Entscheidungsabläufe. Mandy Trögers Dissertation über die Transformation des Pressevertriebssystems in Ostdeutschland von Ende 1989 bis Ende August 1990 reiht sich in dieses noch junge Forschungsfeld an vorderer Stelle ein. Dabei stützt sie sich nicht nur auf bekannte Archive (Bundesarchiv, Parteienarchive), sondern konnte auch zahlreiche Verlags- und Privatarchive sowie einen bislang unbekannten Bestand zum im Februar 1990 gebildeten Medienkontrollrat der DDR auswerten, der seinen Weg (wie auch immer) ins Amsterdamer Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis gefunden hat.
Im Zentrum steht die Frage, wie westdeutsche Wirtschaftsinteressen von Beginn an reformpolitische Initiativen der DDR für einen demokratischen Pressevertrieb untergruben und wie vor allem die vier westdeutschen Großverlage (Springer, Burda, Bauer, Gruner + Jahr) in der noch existierenden DDR Fakten schufen, die selbst über das in der Bundesrepublik rechtlich Mögliche hinausgingen. Diese bauten ein System verlagsabhängiger Grossisten auf und haben dadurch noch heute einen großen Einfluss darauf, welche Zeitungen und Zeitschriften auf den Markt kommen. Ihre These von der "marktgetriebenen Presse-Wende" (266) entfaltet Tröger in drei Kapiteln, wobei sie zunächst die Literatur- und Quellenlage erörtert, dann die strukturellen und institutionellen Grundlagen der DDR-Pressepolitik vor und nach dem Mauerfall skizziert und im dritten Kapitel schließlich die politischen Entscheidungsprozesse, Interessen und Akteure nachzeichnet, die den Transformationsprozess des Pressevertriebs gestalteten bzw. in alternative Bahnen lenken wollten. Mit 162 Seiten bildet dieses Kapitel das Herzstück der Studie, hätte aber deutlich kürzer ausfallen können. Denn die Detailverliebtheit der Autorin, die ihren Ausdruck auch in einer kleinteiligen Kapitelstruktur findet (23 Unterkapitel), macht es schwer, den Überblick zu behalten, zumal sich die Argumente der Akteure häufig wiederholen. Nicht jedes Treffen, nicht jede Pressemitteilung, nicht jeder Brief hätte ausführlich zitiert werden müssen.
Obwohl Tröger weitgehend dem populären Bild von der westdeutschen "Übernahme" der DDR folgt, zeigt sie, dass auch ostdeutsche Akteure aktiv an diesem Prozess beteiligt waren - allen voran das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen (MPF) und die ihr unterstellte Post, die bis zum Mauerfall eine Monopolstellung im Vertrieb von Presseprodukten einnahm, wegen Kapazitätsmangels aber in den 1980er Jahren zusehends dysfunktional wurde. Am eigenen Erhalt interessiert, legte das MPF dem Ministerrat der DDR bereits Ende Januar 1990 Pläne für ein Joint Venture mit den vier Großverlagen der Bundesrepublik vor. Die DDR-Regierungskommission Medienpolitik verhinderte diese zunächst, und es begann ein langer Kampf um den Pressevertrieb. Die "großen Vier" entwickelten eigene Pläne ohne Beteiligung der DDR-Post und nutzten hierfür auch Kontakte zum Bundesinnenministerium, welches die Pläne aus politischen Gründen (Volkskammerwahlen am 18. März 1990) begrüßte. Auf der Gegenseite formierten sich der Runde Tisch, der Medienkontrollrat, ostdeutsche Journalistinnen und Journalisten sowie zum Teil westdeutsche mittelständische Verlage, die allerdings eher aus eigener Angst, von den "großen Vier" verdrängt zu werden, öffentlich für eine staatlich regulierte Medienpolitik eintraten. Eine zwiespältige Rolle spielte das im April 1990 gegründete Ministerium für Medienpolitik. Dieses legte Verordnungen zur Einhaltung bundesdeutscher Rechtsnormen in der DDR und zur Unterstützung verlagsunabhängiger Grossisten vor, die aber durch enthaltene Ausnahmeregelungen letztlich irrelevant wurden. Das Amt für Wettbewerbsfragen der DDR, das Verstöße gegen die Verordnungen ahnden sollte, reagierte zudem vielfach nicht. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt.
Die Studie erweitert unser Wissen über Entscheidungsabläufe in der "Übergangszeit" vom Herbst 1989 bis zum Herbst 1990 ungemein. Die Quellendichte ist beeindruckend, wenn auch an einigen Stellen mehr Mut zur Lücke angebracht gewesen wäre. Nur bedingt überzeugend ist indes die Interpretation des Materials, was auch daher rührt, dass Tröger mit unterschiedlichen Zungen spricht. Als Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin rezipiert sie vornehmlich den Teil der mediengeschichtlichen Literatur, der von Vertreterinnen und Vertretern ihres Faches selbst verfasst wurde. Dabei kommt sie letztlich zu der einseitigen Einsicht, dass "die meisten historischen Arbeiten in der deutschsprachigen Forschung" von der Annahme ausgegangen seien, dass "die DDR kein legitimer, souveräner Staat gewesen" und die Transformationszeit daher als Korrektur eines Irrtums zu betrachten sei (31). Zugleich möchte sich Tröger ihrem Thema aber mit "Methoden aus der Geschichtswissenschaft" (24) nähern. Welche das sind, bleibt allerdings ihr Geheimnis. Zudem fehlt es für eine geschichtswissenschaftliche Studie an einer gründlichen Historisierung, etwa durch Rezeption der breiten mediengeschichtlichen Literatur, die sich mit Blick auf die Bundesrepublik ausführlich dem Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Wirtschaft widmet sowie eine Vielfalt theoretischer Konzepte offeriert.
Schließlich reicht Trögers Interesse auch in den Bereich der Geschichtspolitik hinein. Als Vertreterin der sogenannten Dritten Generation Ost, also der zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborenen, möchte sie der ostdeutschen Stimme "abseits aktueller Geschichtspolitik" (31) mehr Raum geben. Dies erklärt auch, warum sie als Aufhänger eine Rede von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck vom April 2019 wählt, in der er über die Ostdeutschen sagte, dass diese sich eine "Wettbewerbsmentalität" in 40 Jahren Diktatur nicht hätten aneignen können und es daher noch heute vielen von ihnen an einem "absolute[n] Durchsetzungswille[n]" (17) fehle. Weder der Kontext der Rede noch ihr Bezug zum Gegenstand wird deutlich, wodurch der Verweis beliebig wirkt. Aber es geht Tröger hier auch nicht um historische Genauigkeit, sondern um die Beweisführung, dass die Ostdeutschen wohl in der Lage gewesen seien, eigene Konzepte zu entwickeln, aber durch eine "strukturelle Chancenungleichheit" (279) an deren Umsetzung gehindert worden seien. In der Konsequenz entsteht ein dichotomes Bild vom marktgetriebenen Westen und von basisdemokratischen Ost-Initiativen, welche die Autorin mit unverkennbarer Sympathie würdigt. Die geschichtspolitische Intervention geht jedoch zulasten begrifflicher Schärfe. So operiert Tröger mit dem "Gegensatzpaar" Marktlogik und Pressefreiheit, ohne dass diese Begriffe konzeptionell näher ausgeführt oder historisiert werden. Dadurch, aber auch durch die Verwendung von Termini wie "unvollendete (Medien-)Revolution" (280), können unfreiwillig Diskurse stimuliert werden, wie sie auch von rechtspopulistischen Kräften bedient werden. Historiographische Studien, die sich mit einer politisch so umkämpften Phase wie der ostdeutschen Transformation beschäftigen, sollten es jedoch gerade vermeiden, verschiedene Argumentationsstränge allzu unreflektiert miteinander zu verweben.
Christian Rau