Rezension über:

Tino Mager / Bianka Trötschel- Daniels (Hgg.): BetonSalon. Neue Positionen zur Architektur der späten Moderne, Berlin: Neofelis Verlag 2017, 281 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-95808-130-7, EUR 28,00
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Rezension von:
Alexander Kleinschrodt
Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Oliver Sukrow
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Kleinschrodt: Rezension von: Tino Mager / Bianka Trötschel- Daniels (Hgg.): BetonSalon. Neue Positionen zur Architektur der späten Moderne, Berlin: Neofelis Verlag 2017, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 3 [15.03.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/03/34124.html


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Tino Mager / Bianka Trötschel- Daniels (Hgg.): BetonSalon

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Eines vorweg: "BetonSalon" ist, anders als der Titel vermuten lässt, keine Publikation über den Stil des Brutalismus, die zuletzt viel besprochene Sichtbeton-Architektur der 1950er- bis 1970er-Jahre. [1] "Beton" steht hier vielmehr als Chiffre für die Architektur der Nachkriegs- oder Spätmoderne insgesamt - und auch für die Sperrigkeit des Themas, das noch immer mit vielen Vorurteilen (siehe die stereotypische Rede von den "Betonklötzen") besetzt ist.

Der von Tino Mager und Bianka Trötschel-Daniels herausgegebene Sammelband verfolgt eine Doppelstrategie bestehend aus Öffnung einerseits und Zuspitzung andererseits. Einerseits, so scheint es, soll dem Gegenstand die erwähnte Sperrigkeit genommen werden, wie schon der spielerische Titel andeutet. Hierzu trägt auch die Tatsache ihren Teil bei, dass die Beitragenden der Publikation ausnahmslos Nachwuchswissenschaftler und Nachwuchswissenschaftlerinnen sind, die sich dem Themengebiet qua fehlender Zeitgenossenschaft als weniger vorbelastete Beobachter und Beobachterinnen nähern können. De facto ist der "Salon" nicht nur eine Metapher für die hier zwischen zwei Buchdeckeln geführte angeregte Diskussion zur neueren Architekturgeschichte, er verweist auch auf einen Workshop gleichen Namens, der 2016 im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes Welche Denkmale welcher Moderne? in Berlin durchgeführt worden ist und dessen Ergebnisse in der Publikation vorgestellt werden.

Andererseits ist der "BetonSalon" aber weit mehr als eine das Forschungsfeld in lockeren Strichen umreißende Standortbestimmung. Über die Festlegung auf das Themengebiet "Architektur der Nachkriegsmoderne" hinaus, das fallweise bis in die Zeit um 1990 ausgedehnt wird, haben die Beiträge zwar zunächst wenig gemeinsam. Viele der im Band versammelten Texte teilen aber einen hohen methodischen Anspruch, der oft zu innovativen Untersuchungsmodi und produktiven Perspektivverschiebungen führt und damit auch tatsächlich die im Untertitel der Publikation versprochenen "neuen Positionen" anzubieten hat. Im Fokus auf die - gelegentlich kulturwissenschaftlich geprägte - Methodik finden die Beiträge dann auch wieder zusammen und es ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte. Der Arbeit von Mager und Trötschel-Daniels ist es zu verdanken, dass diese Vorzüge vollständig erkennbar werden. Das liegt nicht nur an der als "Grundstein" (13) konzipierten Einleitung des Herausgeberduos, welche die Herausforderungen des Themengebietes präzise umreißt, sondern auch an dem eingestandenermaßen "unkonventionellen Aufbau des vorliegenden Buches" (17) samt von den Autoren und Autorinnen selbst verfassten Zwischentexten, der den internen Querbezügen den notwendigen Raum gibt.

Um diesem Ansatz in der Besprechung gerecht zu werden bietet sich zunächst ein Blick auf den Beitrag an, der die rein architekturgeschichtliche Betrachtung am weitesten überschreitet. Katherin Wagenknecht betrachtet (historisch nicht weiter spezifizierte) Einfamilienhäuser anhand eines kulturanthropologischen respektive raumsoziologischen Instrumentariums, das auf Material aus Feldforschung und Interviews angewandt wird. Dabei zeigt sich, dass die bewohnenden Familien die vermeintlich feste Baulichkeit ihrer Häuser variabel nutzen und sich aneignen, was weder mit den Intentionen der die Häuser planenden Instanzen zur Deckung zu bringen, noch in einer formalen Beschreibung der Architektur zu antizipieren ist. Diese "praktische Herstellung architektonischer Situationen" mutet an wie eine Provokation der Architekturgeschichte durch die soziologische Praxeologie. [2] Auch in der Studie über den Architekten Rainer Gerhard Rümmler, mit der Verena Pfeiffer-Kloss im "BetonSalon"-Band vertreten ist, werden die von dem Oberbaurat für West-Berlin entworfenen U-Bahnhöfe (inzwischen teilweise unter Denkmalschutz) nicht nur als seltene Vertreter "der sogenannten Pop-Art-Architektur" (62) gewürdigt. Pfeiffer-Kloss zeigt zudem, wie Rümmlers Konzept des U-Bahnhofes als unverwechselbarer Ort nicht nur auf den Stadtraum Bezug nimmt, sondern seine Haltestellen, weit davon entfernt nur Nicht-Orte im Sinne Marc-Augés zu sein, der Stadt eine Sinnschicht hinzufügen und deren Topografie neu artikulieren.

Bei dem Beitrag von Simone Bogner handelt es sich um eine einfache Relektüre der Tagungsbände des einflussreichen Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM), die jedoch erstaunliche Ergebnisse zutage fördert. Entgegen der Kritik des Architekten Giancarlo de Carlo, der der CIAM Geschichtsfeindlichkeit attestierte, weist Bogner nach, dass "die Auseinandersetzung mit Geschichte und in keiner Weise deren Auslöschung eine wesentliche und kontinuierliche Rolle innerhalb der Debatten der CIAM [...] spielte" (29). Die Genese und Etablierung der Architekturmoderne nehmen auch die Beiträge von Maike Streit und Anna Kloke in den Blick. Während Streit darlegt, wie künstlerisch anspruchsvolle Architekturfotografie dazu beigetragen hat, die Architektur vor allem der fünfziger Jahre mit Konnotationen wie "Glamour, Eleganz, Rationalität" (263) aufzuladen, belegt Kloke, wie Architekten-Manifeste einerseits als "Trockenübung" und "kompensatorische Ersatzhandlung" (272) dienten, wenn die Bauvorhaben undurchführbar blieben und andererseits zu einem wirkmächtigen "Rezeptionssteuerungsinstrument" (270) im Hinblick auf beispielhafte Bauten werden konnte.

In ihrem eigenen Beitrag fragt die Mitherausgeberin Trötschel-Daniels nach dem "Denkmalbegriff im Denkmalpflegegesetz der DDR". Sie zeigt auf, unter welchen ideologischen Voraussetzungen dort zum Beispiel der Berliner Fernsehturm bereits zehn Jahre nach seiner Fertigstellung zu einem Denkmal erklärt werden konnte. Von heute aus, so die Autorin, erschienen diese Vorgänge aber auch als Vorwegnahme der denkmalpflegerischen Auseinandersetzung mit der Nachkriegsmoderne wie auch als Hinweis darauf, dass die Rede von der abgeschlossenen Epoche, der ein Denkmal angehören müsse, zwangsläufig unbestimmt bleiben muss. Mark Escherich berichtet von einem durch ihn begleiteten universitären Studienprojekt, das sich mit dem Denkmalwert der ab 1964 errichteten Wohnsiedlung Halle-Neustadt befasst hat. Den Studierenden sei es dabei gelungen, "handlungsorientierte und realitätsbezogene Vorschläge zu entwickeln und diese mit sorgfältig durchdachten Begründungen zu untermauern" (224).

Die beiden letztgenannten Beiträge gehören bereits zu dem Schwerpunkt zur Architekturgeschichte der DDR, welche dem Band seinen zweiten bestimmenden Akzent gibt. Die Beschäftigung mit diesem baulichen Erbe erweist sich per se schon als eine durch das Spannungsfeld von ästhetischem Interesse, möglicher Inwertsetzung und ideologiekritischer Kontextualisierung geprägte methodische Herausforderung. Bemerkenswert ist hier der Befund von Felix Richter, der die mediale Repräsentation des Städtebauprojektes Hoyerswerda untersucht hat: Dabei wird deutlich, wie sehr die Stadt in den Jahren um 1960 als "Projektion einer verheißungsvollen Zeit" (242) ausgestaltet worden ist. Die dort zu beobachtende, "gebetsmühlenartig" (245) wiederholte Beschwörung des Kommenden deckt sich mit der Beschreibung des Zeithistorikers Joachim Radkau, der von einem Übermaß an Zukünften in der DDR dieser Phase gesprochen hat. [3] Es folgte aber ab Ende der sechziger Jahre ein "Verlust des Utopischen", im Zuge dessen Hoyerswerda als Ausweis des bereits Erreichten genutzt wurde. Ebenfalls sehr aufschlussreich ist der Beitrag von Kirsten Angermann, die anhand von Sitzungsprotokollen nachweist, dass die DDR-Fachdebatte in der Architektur keineswegs einfach von einer Verspätung gegenüber dem Westen gekennzeichnet war: In dem "Seminar Architekturtheorie" hat Christian Schädlich 1982 bereits das bis heute gängige Narrativ zur Postmoderne (Sprengung Pruitt-Igoe, Bauten von Jencks, den Krier-Brüdern und O.M. Ungers) dargeboten, die Entwicklung aber für die DDR verworfen. Bereits 1987 könne dann jedoch von einer breiten "Akzeptanz postmoderner Gestaltung" (192) gesprochen werden.

Weitere Beiträge des Bandes stellen die Architekturgeschichte der DDR dezidiert in einen transnationalen Zusammenhang. So dokumentiert Jascha Philipp Braun im Hinblick auf die Berliner Großsiedlungen Marzahn (Ost) und Märkisches Viertel (West) ein vergleichbares, die "aufgelockerte Stadt" der fünfziger Jahre revidierendes Abzielen der Planer auf städtisches Leben und Sozialräume. Die Pointe ist hier, dass das Fehlen solcher Urbanität den Großsiedlungen stets angelastet worden ist, z.B. in Marzahn in dieser Hinsicht vorhandene Qualitäten aber etwa durch das "hermetisch von der Umgebung abgeriegelte Einkaufscenter Eastgate" (207) negiert worden seien. Magdalena Kamińska arbeitet in ihrem Beitrag die Zusammenarbeit von Baufachleuten aus der DDR und der Volksrepublik Polen heraus, die zu einer Beteiligung polnischer Bauingenieure an der Entwicklung des weitverbreiteten Wohnungsbau-Typs WBS 70 führte. Zu sich ähnelnden Ergebnissen kommen Paul-Friedrich Walter und Lea Horvat hinsichtlich des Wohnungsbaus in Rostock und im sozialistischen Jugoslawien: Während Walter die gestalterische Diversität der Platte" (177) herausarbeitet, kommt Horvat zu dem Schluss, dass "der Plattenbau nicht als ein monolithisches, ahistorisches Konzept verstanden werden kann" (238). Franziska Klemstein verknüpft ihre Untersuchung des Fachdiskurses zur Denkmal-Klassifizierung in der DDR mit der Entwicklung in Polen, Frankreich und den Niederlanden, während Katharina Sebold darstellt, wie in zumindest einigen kleineren Städten der DDR an der Altstadtsanierung gearbeitet wurde, die wie in der Bundesrepublik als Aufgabe durchaus gesehen worden ist.

Einige weitere Beiträge sind etwas außerhalb der beschriebenen Schwerpunkte angesiedelt. Angesichts der den "BetonSalon"-Band prägenden vielfältigen, auch interdisziplinären Anschlussmöglichkeiten erscheinen sie hier als eher spezialisiertere Studien. Ute

Reuschenberg befasst sich mit dem merkwürdigerweise noch wenig bearbeiteten Kölner Funkhaus des WDR und dessen kaum bekannten Architekten Peter Friedrich Schneider, dem dort eine innovative Verbindung von abgeschirmter Sendeanstalt und öffentlichem Kulturhaus gelang. Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob für die baukünstlerische Ausgestaltung eines solchen Baus der fünfziger Jahre nicht noch aufschlussreichere Begriffe als der des Gesamtkunstwerkes denkbar sind, den Reuschenberg im Rückgriff auf Peter Behrens benutzt. Christian Sander zeichnet materialreich eine Etappe in der Werkbiografie des französischen Architekten Claude Parent nach, die jedoch nach einer stärkeren Kontextualisierung verlangt. Laura Nardis Anspruch, aus ihrer Untersuchung über ein von Walter Henn entworfenes Braunschweiger Universitätsgebäude verallgemeinerbare Kriterien für den Umgang mit Bauten dieser Art abzuleiten, bleibt gleichfalls noch etwas unbestimmt und könnte sich in der Praxis als schwierig erweisen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Dorothea Deschermeier / Wüstenrot Stiftung (Hgg.): Brutalismus. Beiträge des internationalen Symposiums in Berlin 2012, Zürich 2017, sowie Oliver Elser / Philip Kurz / Peter Cachola Schmal (Hgg.): SOS Brutalismus. Eine internationale Bestandsaufnahme, ein gemeinsames Projekt des Deutschen Architekturmuseums und der Wüstenrot Stiftung, Zürich 2017.

[2] Angelehnt an Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967.

[3] Vgl. Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017, 297f.

Alexander Kleinschrodt