Karen Hagemann: Umkämpftes Gedächtnis. Die Antinapoleonischen Kriege in der deutschen Erinnerung (= Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, XVI + 427 S., 3 Farbabb., ISBN 978-3-506-70748-2, EUR 99,00
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Mit Karen Hagemann setzt eine ausgewiesene Kennerin der deutschen Rezeption die Reihe des Schöningh-Verlags über die "europäische Erinnerung" an die Napoleonischen Kriege fort. Hagemann analysiert das "umkämpfte Gedächtnis" in Deutschland allerdings nur bis zum Ersten Weltkrieg. Diese Eingrenzung rechtfertigt die Autorin damit, dass die "nationalen Meistererzählungen" über die Napoleonischen Kriege bereits in den 1860er- und 1870er-Jahren vollendet worden seien. Da es sich um eine "erweiterte und veränderte" Version ihres Werks "Revisiting Prussia's Wars against Napoleon" von 2015 handelt, liegt der geographische Schwerpunkt auf Norddeutschland bzw. Preußen. Das übrige "Deutschland" spielt eine geringere Rolle.
Hagemann widmet sich zunächst der unmittelbaren Kriegserfahrung, dann stellt sie die "kulturellen Praktiken" der Erinnerung vor, insbesondere Feiern, aber auch Denkmäler und Ehrungen. Die beiden letzten Teile thematisieren die literarische Erinnerungsproduktion bis 1914.
Die unmittelbaren Kriegserfahrungen waren extrem ortsabhängig, wie Hagemann im Konsens mit der neueren Forschung betont. Der Süden und Westen des deutschsprachigen Mitteleuropas profitierte von der französischen Herrschaft, der Norden, insbesondere Preußen, durchlitt wegen Kontinentalsperre, Einquartierungen und Kontributionszahlungen eine "ökonomische und soziale Krise" (45). Dort ließen sich Teile der Bevölkerung für einen "Freiheitskampf" gegen die Franzosen mobilisieren. Allerdings schwankte die Kriegsbegeisterung auch in Preußen, in den Städten war sie höher als auf dem Land, unter Katholiken geringer als unter Protestanten etc. Insgesamt konstatiert Hagemann für die Hohenzollernmonarchie dennoch einen beachtlichen Grad patriotischer Mobilisierung. Diese manifestierte sich in der - aus Hagemanns Sicht - "relativ großen Zahl" der Freiwilligen, aber auch in der "freiwilligen materiellen Unterstützung des Krieges sowie der Fürsorge für die Kriegsopfer" (86). Letztere wurde vor allem von Frauen geleistet, deren Beitrag zur Kriegsanstrengung allerdings in der späteren Erinnerungskultur systematisch marginalisiert worden sei.
Diese Erinnerungskultur stellt Hagemann in beeindruckender Breite dar: Von den frühen Erinnerungsfeiern bis zu den großen Festivitäten 1863 und 1913, von früher historischer Aufarbeitung bis hin zur "borussischen Schule", von der Memoirenliteratur und ihren sozialen und regionalen Unterschieden bis hin zum historischen Roman. Als zentrales Thema aller Erinnerungsformen stellt Hagemann den bekannten Wettstreit zwischen einer "monarchisch-konservativen" und einer "liberalen" Interpretation der Antinapoleonischen Kriege dar. Erstere führte den Sieg über Napoleon in den "Befreiungskriegen" auf "das Handeln der Fürsten und Staatsmänner und ihrer Armeen" zurück. (244) Letztere betonte die Leistungen der Freiwilligen sowie die Bedeutung der breiten Unterstützung der "Freiheitskriege" durch "das Volk". Außerdem versuchte die liberale Sicht, das 1813 gegebene Versprechen der Fürsten, "Deutschland in einem Nationalstaat mit einer einheitlichen Verfassung zu einigen" langfristig "im kollektiven Gedächtnis bewahren". (240f.) Staatlich organisierte Erinnerungsfeiern, die Memoiren von Offizieren und Romane für den Massengeschmack am Vorabend des Ersten Weltkriegs propagierten die konservative Sicht; bürgerliche Feste, die Memoiren von Freiwilligen und Romane von Autoren wie Willibald Alexis oder Karl Ludwig Häberlin verkündeten die liberale Interpretation. Entscheidend dafür, welche Sicht die Oberhand gewann, war laut Hagemann die akademische Geschichtsschreibung. Die Autorin zeigt, wie "borussische" Historiker (Droysen, Sybel, Treitschke) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Deutungshoheit gewannen, indem sie sich erfolgreich eine besondere wissenschaftliche Expertise zuschrieben. Sie bekannten sich zum preußischen "Machtstaat", geprägt von König und Armee, und stellten den Sieg über Napoleon als deren Triumph dar. Diese "borussische Meistererzählung" beeinflusste auch die anderen Erinnerungsformen. (359) Als Ursache macht Hagemann neben dem besonderen Prestige der borussischen Akademiker die Zeitumstände aus: Diese Deutung der Napoleonzeit habe "sehr viel besser in den Zeitgeist der Bismarck-Ära mit ihrer nationalen Einigung durch 'Blut und Eisen'" gepasst "als der alte Liberalismus, der den Freiheitskampf im Inneren mit dem nach außen untrennbar verknüpft hatte". (244)
Hagemann betont jedoch, dass der Siegeszug der konservativen Lesart keineswegs total war. Historiker wie Max Lehmann und vor allem Hans Delbrück vertraten noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs die liberale Interpretation. Auch historische Romane hielten alternative Narrative am Leben. Gegen Ende der Kaiserreichszeit dominierten die belletristischen Darstellungen zwar frankophobe, antisemitische und antislawische Klischees. (335) "Anspruchsvollere und nuanciertere Romane" aus den 1850er- und 1860er-Jahren blieben aber beliebt und bildeten ein Korrektiv. Dies belegt Hagemanns Auswertung der populärsten Titel in den vor allem von der Arbeiterschaft frequentierten Leihbibliotheken. (337)
Die Autorin kritisiert vor diesem Hintergrund die "nach 1945 so lange gehegte Annahme von Historikern, dass die monarchisch-konservative Interpretation seit der Restauration die dominierende Lesart der Zeit der Antinapoleonischen Kriege im kollektiven Gedächtnis des 19. Jahrhunderts gewesen wäre". Diese Fehleinschätzung resultierte laut Hagemann aus der Praxis, dass bundesdeutsche Historiker die Texte ihrer Vorgänger - Sybel, Treitschke etc. - als allein relevant erachtet hätten. Indem sie konkurrierende Medien wie historische Romane missachteten, hätten sie "de facto die Meistererzählungen dieser Historiker" fortgeschrieben und "den andauernden Wettbewerb und Streit in der Produktion populärer Erinnerungen" unterschätzt. Selbst der Versuch, die nationalen "Meistererzählungen" in Frage zu stellen, habe diese auf "paradoxe Weise" am Leben gehalten. Die Behauptung von Historikern wie Jörg Echternkamp oder Hans-Ulrich Wehler, eine "patriotisch-nationale Bewegung" habe es 1813 überhaupt nicht gegeben, griff laut Hagemann indirekt die konservativ-monarchische Interpretation der "Befreiungskriege" auf und verkannte "das frühliberale Potential, das in dem Patriotismus der Kriege von 1813-15 auch angelegt war". Hagemanns Fazit lautet hingegen: "Diese Kriege waren schon zu ihrer Zeit beides: 'Befreiungskriege' und 'Freiheitskriege'". (365f.)
Die Warnung, den "Mythos vom Befreiungskrieg" zu verabsolutieren, ist berechtigt. Teile der deutschen Bevölkerung hatten guten Grund, sich für den Krieg gegen die napoleonische Herrschaft zu begeistern und taten dies auch. Dies ist genauso anzuerkennen wie der Umstand, dass andere Teile der "Deutschen" keinerlei Enthusiasmus zeigten. Die Kernthese der Studie, dass die Rezeption der Antinapoleonischen Kriege bis zum Ersten Weltkrieg weniger einseitig war als lange dargestellt, ist keine neue Erkenntnis. Aber sie wird durch Hagemanns Forschungen eindrucksvoll untermauert. Beeindruckend ist vor allem die hier geleistete Analyse der Belletristik. Diese setzte sich offenbar tendenziell differenzierter mit der Zeit Napoleons auseinander als die akademische Geschichtswissenschaft. Zu kritisieren ist lediglich die zeitliche Einschränkung des Buches. Die zweiten 100 Jahre Erinnerungsgeschichte böten definitiv Stoff für einen Folgeband.
Sebastian Dörfler