Gabriele Voßgröne: Johann Carl Bertram Stüve (1798-1872). Ein untypischer Bürger (= Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte; Bd. 26), Münster: Aschendorff 2016, 244 S., eine s/w-Abb., ISBN 978-3-402-15066-5, EUR 37,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sebastian Kubon: Die Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hochmeister Konrad von Jungingen (1393-1407), Göttingen: V&R unipress 2016
Mathis Mager: Krisenerfahrung und Bewältigungsstrategien des Johanniterordens nach der Eroberung von Rhodos 1522, Münster: Aschendorff 2014
Hans Hettler: Preußen als Kreuzzugsregion. Untersuchungen zu Peter von Dusburgs Chronica terre Prussie in Zeit und Umfeld, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2014
Dan Jones: Die Templer. Aufstieg und Untergang von Gottes heiligen Kriegern, München: C.H.Beck 2019
Thomas Biller: Templerburgen, Mainz: Philipp von Zabern 2014
Daniel Göske (Hg.): Carl Schurz. Lebenserinnerungen. Mit einem Essay von Uwe Timm, Göttingen: Wallstein 2015
Nils Bennemann: Rheinwissen. Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt als Wissensregime, 1817-1880, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020
Julius H. Schoeps: Im Kampf um die Freiheit. Preußens Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848, Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2022
Gabriele Voßgröne legt mit ihrer Osnabrücker Dissertation keine vollumfängliche Biografie des im 19. Jahrhundert weithin bekannten liberalen Juristen, Historikers und Politikers Johann Carl Bertram Stüve vor, sondern konzentriert sich auf seine Lebensjahre von 1817 bis 1833, die sie zur "Prägephase" ihres Protagonisten erklärt. Auch geht es ihr nicht darum, seinen beachtlichen Aufstieg in diesen Jahren vom Studenten zum hannoverschen Landtagsabgeordneten und Osnabrücker Bürgermeister in seinen einzelnen Entwicklungsschritten zu analysieren; Voßgrönes Anliegen ist es vielmehr, aus den vom ihm und über ihn vorliegenden Zeugnissen dieser Jahre herauszuarbeiten, wie weit er "entsprechend den Wertvorstellungen seiner Zeit und seines Standes agierte". Dass sie ihn in der Einleitung "pars pro toto als Bürger" verstehen will (10), kontrastiert mit dem Untertitel der Arbeit, die ihn als "untypischen Bürger" etikettiert.
In der Annäherung an ihren Untersuchungsgegenstand betreibt Voßgröne erheblichen Aufwand und rollt Begriffsgeschichte und Forschungsstand zum Bürgertum breit aus. Die Ausführungen dazu sind sachkundig und haben damit einen Eigenwert, wirken aber doch, da nur Weniges stringent auf die Belange der eigenen Untersuchung bezogen wird, wie eine Fingerübung. Dem forschungsgeschichtlichen namedropping schließen sich zwei weitere Überblickskapitel an, in denen das "Bürgertum der Stadt Osnabrück" und die bisherigen Forschungen zur Biografie Stüves vorgestellt werden. Erst ab Seite 60 erläutert Voßgröne ihre methodische Vorgehensweise, für die sie sich vor allem das begriffliche Rüstzeug Pierre Bourdieus nutzbar macht. Den Schluss der Einleitung, die mehr als ein Drittel des Gesamten ausmacht, bilden Ausführungen über die Beschaffenheit der Quellen - neben den bereits publizierten Briefen Stüves hat Voßgröne etwa fünf Dutzend weitere aus den Archiven gehoben - und quellenkritische Überlegungen zur Gattung des Briefes.
Den fast 80-seitigen Präliminarien schließt sich ein weiterer umfänglicher hinführender Abschnitt an, in dem Voßgröne in stellenweise sehr kleinteiliger Darstellung den Aufstieg der Osnabrücker Patrizierfamilie Stüve seit der Frühen Neuzeit, die Biografien der Eltern und der Geschwister sowie den Lebensweg ihres Protagonisten nachzeichnet, ohne dabei indes auf seine eminente Bedeutung für die hannoversche Geschichte der Jahre 1848/49 einzugehen. Das Kernstück ihrer Arbeit ("Johann Carl Bertram im 'bürgerlichen Wertehimmel'") hat sie in drei chronologisch ausgerichtete Großkapitel unterteilt, die seine Studienzeit in Berlin und Göttingen (1817-1820), seine Parallelkarrieren als Anwalt in Osnabrück und Abgeordneter in Hannover (1820-1830) sowie die Zeit seiner Tätigkeit als hannoverscher Schatzrat (1830-1833) behandeln. In intensiver Diskussion des überlieferten Briefmaterials zeigt Voßgröne dabei auf, wie Stüve seine Umgebung wahrnahm und seinen Platz in der bürgerlichen Welt suchte, und immer wieder werden die Befunde an die Erkenntnisse der Bürgertumsforschung rückgebunden. In dem Fazit zu seiner Studienzeit zum Beispiel liest sich das so: "Der Student aus Osnabrück nutzte die Studienzeit zur Akkumulation kulturellen Kapitals durch Weiterbildung. Dabei handelte es sich sowohl um den Erwerb wissenschaftlicher Theorien und Inhalte, als auch um den Kenntnisausbau hinsichtlich der 'schönen Künste'. Stüve schuf die Voraussetzung für den Erwerb von institutionalisiertem Kapital in Form einer Promotion. Die Basis für sein soziales Kapital - sein Beziehungsnetz - bildete seine Mitgliedschaft bei den aktiven Sportlern. Man kannte und anerkannte sich und erlangte so die 'Zugehörigkeit zu einer Gruppe', die sich aus Angehörigen des Bildungsbürgertums rekrutierte" (136).
In ähnlichem Duktus werden auch die weiteren Lebensschritte Stüves analysiert, und auch im Fazit der Anfänge seiner landespolitischen Karriere wird wieder Bourdieu - mutmaßlich der nach "Stüve" meistgenannte Name in der Arbeit - bemüht: "Akteure mit ähnlichem Habitus positionierten sich auf dem politischen Handlungsfeld, um ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen" (161). Voßgrönes Neigung, ihre Recherchefrüchte sogleich soziologisch zu kategorisieren, macht die Lektüre - zumindest ging es dem Rezensenten, der gerne mehr zum Beispiel über die politischen Konflikte, an denen Stüve beteiligt war, erfahren hätte, so - zu einem mühevollen Unterfangen und nur stellenweise fügen sich die Ausbreitung und die Interpretation des Quellenmaterials zu einer flüssigen Darstellung. Dies gilt etwa für das Kapitel III.3.3, in dem Voßgröne das gescheiterte Werben Stüves um die Verlegertochter Allwina Frommann schildert, das ihn Junggeselle bleiben und damit "untypischer Bürger" werden ließ.
Die Lektüreeindrücke sind ambivalent: Der kleine Kreis derer, die an der Geschichte Osnabrücks im Allgemeinen und der Biografie Stüves im Besonderen interessiert sind, werden in der Arbeit manches Interessante finden, mit der speziellen Fragestellung der Autorin aber vielleicht nicht viel anfangen können. Ob die Arbeit, derer redaktioneller Zustand übrigens einige Wünsche offenlässt (in einer Zwischenüberschrift 208 zum Beispiel heißt es "Hasestadt" statt "Hansestadt"), andererseits in der Bürgertumsforschung breit rezipiert werden kann, erscheint fraglich, da letztlich nur Individualbefunde erhoben werden.
Frank Engehausen