Lorenz Gallmetzer: Von Mussolini zu Salvini. Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus, Wien: Kremayr und Scheriau 2019, 191 S., ISBN 978-3-218-01182-2, EUR 22,00
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Kein Land gibt uns so viele Rätsel auf wie Italien. Zu lösen sind sie anscheinend nicht, sonst würden nicht Jahr für Jahr neue Sachbücher mit dem Versprechen auf den Markt geworfen, endlich für Klärung und Klarheit zu sorgen, zumindest mit Blick auf die politischen Verhältnisse. Die Größe des Rätsels scheint diese Flut an Publikationen förmlich zu erzwingen. Namentlich Journalisten fühlen sich aufgerufen, ihre Vor-Ort-Erfahrungen in und mit Italien in Antworten umzumünzen. Das kann verdienstvoll, aber auch riskant sein, weil ihre Bücher mit dem unerhörten Tempo der italienischen Politik oft nicht mithalten können - oder anders formuliert: Ihre Halbwertszeit ist gering, im Extremfall sind die Bücher bereits am (oder kurz nach dem) Erscheinungstag überholt.
Dieses Schicksal ereilte auch das Buch von Lorenz Gallmetzer, das den ebenso provokanten wie interessanten Titel trägt: "Von Mussolini zu Salvini. Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus". 2019 in der Annahme publiziert, dass der Aufstieg von Matteo Salvini, dem Anführer der Lega, unaufhaltsam sei und dass die Regierung aus Lega und Cinque Stelle den Durchbruch eines gefährlichen rassistischen und radikalpopulistischen Regimes markiere, büßte es noch im selben Jahr viel von seinem Appeal ein, weil sich Salvini selbst ins Abseits der Opposition manövrierte und die von ihm dominierte Regierung zerbrach. Seither muss er raunend und staunend erleben, wie der nüchtern-pragmatische Giuseppe Conte im Amt des Ministerpräsidenten wächst und sich mit seiner Mitte-Links-Regierung in der Corona-Krise großes Vertrauen erwirbt; sogar der scheintote linke Partito Democratico befindet sich im Aufwind. Vor einem Jahr noch allgegenwärtig, ist Salvini jetzt hinter den Kulissen verschwunden. Die befürchtete "radikale Rechtswende in Italien" ist vorerst ausgeblieben.
Damit könnte man auch Gallmetzers Buch getrost beiseitelegen, wäre da nicht die reizvolle Frage nach den Ursachen von Salvinis zeitweiligem sensationellem Erfolg, der paradigmatische Bedeutung für Europa haben soll. Italien wieder einmal in der historischen Vorreiterrolle, die dem Land gerne zugeschrieben wird? Der Autor sucht Antworten auf diese Frage, wenig überraschend, in der Geschichte, genauer: vornehmlich in der ungebrochenen Kontinuität rechtsradikaler Organisationen und Gedankengebäude, in der Kontinuität von Mussolini zu Salvini, wie durch Titel, Titelbild und Anlage des Buches suggeriert wird. Konkret heißt das: Gallmetzer skizziert zunächst die Geschichte der Lega, wobei er der Biografie, den ideologischen Grundüberzeugungen und der innerparteilichen Karriere Salvinis besondere Aufmerksamkeit schenkt, ehe er sich den rassistischen Gewalttaten der extremen Rechten widmet und dafür einige widerwärtige Fallbeispiele liefert. Das meiste davon ist längst bekannt, es stand in den Zeitungen und war in anderen Sachbüchern zu lesen. Ähnliches gilt für den zweiten Block, in dem es in mehreren Kapiteln um die Geschichte des Neofaschismus nach 1945 und um die "epurazione mancata", die angeblich ausgebliebene Säuberung beziehungsweise Vergangenheitsbewältigung geht.
Was Salvinis Aufstieg damit zu tun hat und wo der Zusammenhang zu Mussolini zu suchen ist, bleibt der Phantasie der Leserinnen und Leser überlassen. Eine Antwort darauf erhalten sie hier genau so wenig wie in den Kapiteln über den Kalten Krieg, die Karriere Berlusconis, die Grundübel Italiens (Bürokratie, Korruption, Justiz), die Privilegien der Politiker und die Wirtschaft in der Dauerkrise. Gallmetzer deutet Verbindungslinien an, die es geben kann - oder eben auch nicht. Analyse wird dagegen kleingeschrieben, der Leitbegriff "moderner Nationalpopulismus" hängt in der Luft, und alles, was nicht ins Bild passt, wird sowieso einfach ausgeblendet. Ein Beispiel dafür: Die italienische Linke konnte in den letzten 20 Jahren mehrmals bei Wahlen reüssieren - Matteo Renzi vom Partito Democratico gewann bei den Europawahlen von 2014 über 40 Prozent der Stimmen, während Salvinis Lega damals bei mageren 4,3 Prozent landete. Wenn die Geschichte Italiens tatsächlich zu einer strukturellen Dominanz der politischen Rechten geführt hat - wie konnte das geschehen?
Der Erklärungswert solch pauschaler Rückgriffe auf die Geschichte tendiert gegen Null. Auch Mussolini gibt als Ahnherr Salvinis analytisch wenig her. Keine Frage, der Anführer der Lega profitierte von der Virulenz rechtsradikaler Strömungen in der italienischen Gesellschaft, und er fand in rechtsradikalen Parteien und Gruppen Sympathisanten und Verbündete. Er zog Nutzen aus der Wirtschaftskrise, die Italien seit mehr als zwei Jahrzehnten in Atem hält und natürlich von Salvini propagandistisch ausgeschlachtet wird. Die eigentlichen Ursachen seines Aufstiegs aber liegen anderswo - in der Flüchtlingskrise, in der Enttäuschung über die Europäische Union, in der Erosion der bürgerlichen Mitte und des politischen Katholizismus und nicht zuletzt in der Frustration über das Elend der Linken, die sich auch jetzt wieder - trotz leichten Aufwinds - lieber selbst zerlegt, als sich ernsthaft um die Probleme des Landes zu kümmern.
Gallmetzer streift diese Grundprobleme nicht einmal. Wer besser über das gegenwärtige Italien informiert werden will, greife deshalb zu Ulrich Ladurners Buch, "Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen" oder noch besser zu Thomas Steinfelds monumentaler Studie "Italien. Porträt eines fremden Landes" [1]. Letztere hat, wie die Klassiker Goethes, Seumes oder Fests, überhaupt keine Halbwertszeit, weil sie dem Leser so genau und einfühlsam wie möglich vor Augen führt, wie Italien in seinen tausend Nuancen funkelt und wie fremd das Nachbarland uns, aber auch vielen Italienern selbst geworden ist.
Anmerkung:
[1] Vgl. Ulrich Ladurner: Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen, Hamburg 2019; Thomas Steinfeld: Italien. Porträt eines fremden Landes, Berlin 2020.
Hans Woller