Rezension über:

Elisabeth Gentner: Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht (= Methoden Historischen Lernens), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, 252 S., zahlr. s/w-Abb., zahlr. Tbl., ISBN 978-3-7344-0808-3, EUR 16,90
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Rezension von:
Lale Yildirim
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Lale Yildirim: Rezension von: Elisabeth Gentner: Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/33650.html


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Elisabeth Gentner: Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht

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Die Pluralität der deutschen Gesellschaft wird in der Schule und auch im Geschichtsunterricht stark thematisiert. Leider geschieht dies oft unter einer Defizitperspektive. In diesem Zusammenhang gibt es seitens der Lehrkräfte berechtigte Nachfragen nach Fortbildungen für ein historisches Lernen in Diversität. Hier tut sich ein jahrzehntelanges Versäumnis der Lehrkräftebildung auf, die sich besonders auf Lernende mit abstammungsdeutscher Herkunftsgeschichte bezieht und Diversität ignoriert. Auf diese dringende Nachfrage, versucht Elisabeth Gentner zu antworten, indem sie Begrifflichkeiten definiert und sie in einen geschichtsdidaktischen Zusammenhang setzt. Hierzu liefert sie Quellen- und Methodenbeispiele.

Gentner beginnt mit einer Debatte um die Notwendigkeit eines interkulturellen Lernens (12- 25). Sie fokussiert dabei besonders Schüler und Schülerinnen mit einem sogenannten Migrationshintergrund und schreibt: "Jugendliche mit einem Migrationshintergrund sollten nicht den Eindruck erhalten, erinnerungspolitisch ausgeschlossen zu sein, weil sie nicht am gleichen kulturellen Gedächtnis teilhaben" (24) und betont, dass "interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht [...] nicht die Konzeption völlig neuer Curricula notwendig" macht. Sie spricht sich für interkulturelles Lernen als "integrale[n] Bestandteil des Geschichtsunterrichts" (25) aus.

Obwohl Gentner von "Migrationsgesellschaft" spricht (23), verschwimmt die Bedeutung des Begriffs [1], wenn sie schreibt, dass "in deutschen Klassenzimmern Jugendliche mit Migrationshintergrund 'historische Narrationen und Geschichtsbilder' subjektiv verarbeiten, wie sie ihre eigene Geschichte entdecken und in den 'Dimensionen ... nationaler Geschichts- und Erinnerungskultur' interpretieren" (23). Hierbei bezieht sie sich auf Crossover Geschichten aus dem Jahr 2009 und vernachlässigt neuere Arbeiten. [2] Kritisch anzumerken ist hier zum einen, dass Gentner bereits zu Beginn ihrer Ausführungen die Dichotomie zwischen 'Eigenem' und 'Fremdem' mit Jugendlichen mit fehlendem Migrationshintergrund und Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund aufspannt. Zudem stellt sich die Frage, warum Jugendliche, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, oftmals deutsche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen sind und an 'deutscher' Geschichts- und Erinnerungskultur teilnehmen als kulturell 'Andere' markiert werden.

Diese Schwierigkeit zeigt sich ebenfalls im nächsten Kapitel, das eine Definitionsübersicht der Begrifflichkeiten "intrakulturell", "multikulturell", "interkulturell" und "transkulturell" bietet. Eine übersichtliche Darstellung ist besonders hervorzuheben, da begriffliche Trennschärfe und Genauigkeit Grundlagen eines differenzierten Umgangs mit historischem Lernen und der Reflexion des eigenen Kulturbegriffs darstellen. Ihr Plädoyer für einen interkulturellen Ansatz begründet sie damit, dass "transkulturelle Ansätze ... Grenzen zwischen Eigenem und Fremden verschwimmen" ließen, "was eine Identitätsfindung - gerade bei Jugendlichen - durch fehlende Alteritätserfahrung erschweren" würde (29). Auch sei der interkulturelle Ansatz aufgrund seines normativen Ansatzes besser geeignet, Menschenrechte und Prinzipien der Humanität als Orientierung zu bieten.

Diese Setzung zeigt, dass Gentner sich Zielen und Vorteilen eines transkulturellen Ansatzes verschließt. Das Erkennen des Selbst und die damit einhergehende Abgrenzung ist Prozessbestandteil einer Identitätskonstruktion. Das Beharren auf Eigenem und dem Abgrenzen vom Fremden jedoch - wobei nicht klar ist, wer oder was das / die / der Fremde ist - verkennt, dass Identitätserweiterung durch Ausgrenzung nicht gelingen kann. Dieses Missverständnis zeigt sich in der Fortführung des dritten Kapitels, wenn ausgerechnet auf Samuel P. Huntington und den "Kampf der Kulturen" sowie auf die Debatte um eine 'Leitkultur' eingegangen wird. Im vierten Kapitel widmet sich Gentner dem interkulturellen Geschichtsunterricht, den Darlegungen von transnationaler Geschichte, Histoire croisée, Globalgeschichte und kulturellen Kontakten bevor sie sich mit der Gegenüberstellung von interkulturellem Lernen und Globalgeschichte sowie Intersektionalität und Diversity-Ansätzen beschäftigt.

Gentner bleibt ihrer eingangs schon dargestellten Dichotomie des Fremden und des Eigenen treu und bewertet einen intersektionalen Ansatz beim historischen Lernen als Negation "einer klaren Trennung in homogene Gruppen und eine damit verbundene Bipolarität, wodurch die Klassifizierung in 'Wir' und 'die Anderen' unmöglich wird" (49). Nur durch bipolar ausgerichteten Unterricht könnten Synergie und vernetztes Geschichtsdenken gefördert werden (49).

Im folgenden Kapitel beschäftigt sie sich mit interkulturellem Geschichtslernen und Kompetenzorientierung am Beispiel des FUER Geschichtsbewusstsein Modells und ausführlich mit den Prinzipien historischen Lernens. Ebenso wie beim inklusiven Lernen beschreibt sie den Mehrwert und Anwendungsmöglichkeiten, benutzt diese jedoch zur Festigung der Aussage, dass historisches Lernen stets auch interkulturelles Lernen sei. Diese Aussage von Bodo von Borries, dass "Geschichte per se Fremdverstehen [...] und übrigens auch per se interkulturell" sei [3], ist nicht zu negieren, aber eine uneingeschränkte Übertragung auf historisches Lernen in einer pluralen Gesellschaft - und eigentlich ist mit Klaus Bergmann gesprochen Pluralität der Narrationen nicht nur Ziel in heterogenen Klassen - nicht möglich. [4] Die Beschäftigung mit Vergangenheit und Geschichte ist eine Beschäftigung mit dem "nächsten Fremden". [5] Gentner warnt jedoch nicht vor der Gefahr, das 'Fremde' als anders zu markieren. Dies würde Ausgrenzung fördern und plurale Narrationen verhindern.

Im Kapitel acht widmet sich Gentner den Transferchancen interkulturellen Lernens und betont die Übertragbarkeit von Kategorien zur Analyse und Reflexion ähnlicher globaler Ereignisse (99 / 100). Im neunten Kapitel erörtert sie das Potenzial von Quellen im interkulturellen Unterricht. Hierbei zeigt sie an exemplarisch ausgewählten Quellen (Ebstorfer Weltkarte, 111) Einsatzmöglichkeiten und Chancen auf. In ihrem zehnten Kapitel diskutiert Gentner Methoden zur Unterstützung interkulturellen Lernens. Das Kapitel beginnt mit einer Definition interkultureller Kompetenz als "Wissen über" und "Wissen wie" (121). Als Wege einer Kompetenzorientierung werden Kommunikation und Diskurs herausgestellt, die Narrativität befördern sollen. Hierbei wird methodisch das Rollenspiel betont. Das exemplarische Beispiel (125-127) bedient sich jedoch klischeebeladener Typen, die sich zudem besonders durch die herausgestellte nationale Zugehörigkeit unterscheiden, obwohl es auf Seite 128 heißt, dass die Rollenkarten auf einem diversitätssensiblen Ansatz basierten.

In den folgenden Kapiteln setzt sich Gentner mit der Frage der Periodisierung von Geschichte, mit grenzübergreifenden Schulbüchern und den Chancen bilingualen Geschichtsunterrichts auseinander, bevor sie sich außerschulischen Lernorten zuwendet. In diesem Kapitel betont die Autorin die Unterstützung der Identitätssuche und -findung von Schülern und Schülerinnen und verwendet den Heimat-Begriff, den Sie im Kapitel "Herausforderungen und Grenzen" immer wieder aufnimmt.

Sie beschreibt Kultur als Konstrukt, das stets Wandlungsprozessen ausgesetzt sei (159) und betont kritisch eine westlich geprägte, hegemoniale Deutung von Vergangenheit und die Notwendigkeit einer ausgewogenen Auswahl bei Quellen (159). Im Folgenden warnt sie vor "einem allzu multiperspektivisch ausgerichteten Geschichtsunterricht", der "schnell Gefahr laufe, die Geschichte einer zu großen Dekonstruktion auszusetzen" (160) und fordert verlässliche "Eckpunkte" zur Vermittlung von Orientierung in Raum und Zeit (160). Sie betont, dass "ein Übermaß an Identitätsangeboten" Schüler und Schülerinnen überfordere (160). [6] Diese Aussagen zeigen die Problematik des propagierten interkulturellen Ansatzes. Ziel des Geschichtsunterrichts ist es, Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft zu fördern. Dies bedeutet, eigensinnige historische Narrationen durch die Re-Konstruktion von Vergangenheit zu ermöglichen oder angebotene Deutungen hinsichtlich Identitäts- und Orientierungsangeboten zu de-konstruieren, um Identitätserweiterung und (Handlungs-) Orientierung zu ermöglichen. Die Grundlage dieses (selbst-)reflexiven und kritischen historischen Denkens ist das Verständnis von Geschichte als Konstrukt.

Im vorletzten Kapitel listet die Autorin "Hotspots" einer Themenwahl (162-204) auf und bietet eine vielfältige Quellenauswahl. Auffällig sind hierbei die Schwerpunkte Migration, Islam oder Türkei. In ihrer Schlussbetrachtung betont Elisabeth Gentner den Mehrwert der Verbindung von Globalgeschichte und interkulturellem Lernen und die stete Anpassung des Geschichtsunterrichts an gesellschaftliche Realität (206) und beschreibt Deutschland als Einwanderungsland und eben nicht als Migrationsgesellschaft, die sich durch einen transkulturellen produktiven Diskurs mit pluralen und kontroversen Geschichten entwickelt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Gentner sich einem aktuellen Bedürfnis nach inhaltlicher und methodischer Unterstützung für einen Geschichtsunterricht in einer pluralen Gesellschaft zuwendet. Hierzu stellt sie umfangreiches Material zur Verfügung. Jedoch verkennt sie, dass die Ansätze des interkulturellen Lernens, die mit dem Material verknüpft werden, nicht die benötigten Zugänge zu einem historischen Lernen in der Migrationsgesellschaft bieten können. Das dem Buch zugrundeliegende Verständnis von Gesellschaft und Zugehörigkeit erschwert eine Partizipation an Geschichtskultur in einer Migrationsgesellschaft, die vor allem durch transkulturelles historisches Denken gefördert werden könnte.


Anmerkungen:

[1] Paul Mecheril: Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive, in: Ders. [et al.] (Hgg.): Migrationspädagogik, Weinheim 2010, 7-22, hier 11.

[2] Viola Georgi / Rainer Ohliger: Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2009.

[3] Bodo von Borries: Interkulturalität beim historisch-politischen Lernen - Ja sicher, aber wie?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2000), Nr. 5 / 6, 305-324, hier 315.

[4] Klaus Bergmann: Multiperspektivität, in: Ulrich Mayer / Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider (Hgg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach / Ts. 2011, 65-77.

[5] Ovo Hölscher: Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne, München 1994; Otto G. Oexle: Die Gegenwart des Mittelalters, Berlin 2013, 1.

[6] Siehe dazu Lale Yildirim: Der Diasporakomplex, Bielefeld 2018, 227-266.

Lale Yildirim