Nathan J. Ristuccia: Christianization and Commonwealth in Early Medieval Europe. A Ritual Interpretation, Oxford: Oxford University Press 2018, XI + 260 S., ISBN 978-0-19-881020-9, GBP 74,00
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Der erste Blick auf den Schutzumschlag des zu besprechenden Werkes irritiert. Man liest den Titel "Christianization and Commonwealth in Early Medieval Europe" und sieht darunter die Darstellung einer Flurprozession aus dem Frankreich des 19. Jahrhunderts. Wie passt das zusammen? Zwischen Titel und Bild steht der Untertitel "A Ritual Interpretation". Er nimmt nicht nur im Layout des Umschlags eine mittlere Position ein, sondern vermittelt auch sachlich zwischen beiden. Die angekündigte Interpretation gilt einem Ritual, das jedenfalls in bestimmten Abschnitten seiner Geschichte der bildlichen Darstellung nahegekommen sein muss, nämlich den Buß- und Bittprozessionen, die jährlich (in der Regel) an den drei Tagen vor Christi Himmelfahrt stattfanden. Im Englischen spricht man von Rogationtide und im Deutschen beginnen jetzt die Schwierigkeiten, denn es gibt kein entsprechend bündiges deutsches Wort. Man muss sich hier mit einer der alten lateinischen Benennungen behelfen, die sich als liturgischer Fachbegriff durchgesetzt hat: Litaniae minores.
Übrigens findet man in dem für dieses Thema maßgebenden deutschen Lexikon keinen Eintrag unter diesem Stichwort, man wird vielmehr auf den allgemeineren Begriff "Bittprozession" verwiesen. [1] Mit dem, was dort als Erkenntnisstand zur Entstehung und Vorgeschichte der Litaniae minores referiert wird, setzt sich Ristuccia in den ersten beiden Kapiteln seines Buches auseinander (24-96). Folgt man seiner überzeugenden Argumentation, die sich auf eine ebenso detaillierte wie kritische Lektüre der Quellen stützt, bleibt davon nicht viel übrig: Die Litaniae minores seien christianisierte heidnische Flurprozessionen (ambarvalia)? Nein! Als Vorbilder taugliche heidnische Flurprozessionen haben gar nicht existiert, und überhaupt sind die Litaniae minores als städtische Veranstaltungen eingeführt worden. "Bischof Mamertus von Vienne" habe "ihnen um 470 eine feste liturgische Form gegeben"? [2] Keineswegs! Wie auch immer die von ihm gefeierten Prozessionen aussahen, mit dem, was später als Litaniae minores bezeichnet wurde, hatten sie wohl nicht viel gemein. Schließlich kann der Autor leichten Herzens (aber mit guten Argumenten) erklären, ihr Ursprung sei nicht mehr zu rekonstruieren, obwohl die ältesten Quellen nahezu zeitgenössisch sind.
Zur Bereitschaft, diese Frage offenzulassen, hat sicherlich der Charakter des Buches beigetragen. Bis hierher hat unsere Rezension den Eindruck erweckt, es handele sich um eine liturgiegeschichtliche Spezialstudie. Das trifft jedoch nicht den Skopus des Werkes, auch wenn es viel einschlägiges Material dazu liefert. Dass dieses Buch mehr sein möchte, verrät bereits sein Titel. Das Ritual der Litaniae minores dient ihm gewissermaßen als methodischer Ausgangspunkt, dessen exemplarische Untersuchung ein neues Verständnis des Christianisierungsprozesses zwischen Spätantike und Hochmittelalter begründen soll. Es lässt sich schlagwortartig zusammenfassen in der Aussage: "Christianization was primarily ritual performance" (152).
Unter den vielfältigen christlichen Ritualen bieten sich Prozessionen für eine derartige Untersuchung an, führen sie doch die Christen sichtbar zusammen, ohne jedoch alle sozialen Unterschiede aufzuheben, die häufig in der Prozessionsordnung ebenso sichtbar gemacht werden wie die überwölbende Gemeinschaft. Das dritte Kapitel (97-134) arbeitet die Bedeutung der Prozessionen für die Konstituierung dieser lokalen christlichen Gemeinschaften heraus. Sie fanden in der Zeit des Unter- oder doch Niedergangs der antiken Städte (soweit sie in den nun christianisierten Gebieten überhaupt existiert hatten) und vor dem Ausbau eines flächendeckenden Netzes von Pfarreien - oder in Ristuccias Worten: "between the polis and the parish" (135) - ihren Mittelpunkt in den Taufkirchen. Aber keine Inklusion funktioniert ohne Exklusion, wie besonders das vierte Kapitel (135-177) anhand von Streitigkeiten über die Prozessionen zeigt. Allerdings weitet der Autor den Fokus in diesem Kapitel unvermerkt, da nicht bei allen geschilderten Streitigkeiten nachzuweisen ist, dass sie tatsächlich den Litaniae minores galten und nicht anderen Prozessionen.
Nicht allein der Raum, in dem die lokalen Christen agierten, änderte seinen Charakter, sondern auch andere Bedingungen des Christseins. Indem die Kindertaufe die Regel wurde, entfiel die Taufkatechese als Einführung in den christlichen Glauben. Ristuccia untersucht in seinem letzten Kapitel (178-209), wie man versuchte dieses Defizit an grundlegender Glaubensunterweisung durch Predigten während der Litaniae minores aufzufangen. Die Basisunterweisung konzentrierte sich vor allem auf das Vaterunser als das wichtigste Gebet der Christen.
Ristuccias Argumentation ist durch genaue, philologisch geprägte Lektüren bestimmt, immer auf der Hut vor anachronistischen Interpretationen, deren Wurzeln er in der konfessionellen Polemik der frühen Neuzeit ausmacht. So widmet er der Kritik an diesen Bittprozessionen, die Thomas Hobbes im Leviathan vorgetragen hat, mehrere Seiten. [3] Diese Vorsicht, ja Skrupulosität zeigt sich bereits im Titel, wo "Commonwealth" als Übersetzung für 'res publica' steht, im Deutschen also etwa mit 'Gemeinwesen' wiederzugeben wäre.
Das Bemühen, die gebrauchte Begrifflichkeit möglichst aus der Quellensprache abzuleiten und mit ihr zu begründen, wirft aber auch Fragen auf. Ist es wirklich sinnvoll den modernen Begriff "Christianization" an Tertullians Gebrauch von 'christianizare' zu messen? Zumal Tertullian (gestorben nach 220) nicht nur chronologisch klar vor dem Untersuchungszeitraum des Buches liegt, sondern auch in einer Umwelt schrieb, die für Christen ganz anders aussah als jene, die Ristuccia interessiert. Hat der moderne Begriff nicht ein Potential, das den Quellenbegriffen fehlt? Sollte man ihn nicht gerade in seiner Modernität, ohne den Blick auf die Quellensprache einsetzen?
Während das Wort "Christianization" trotz nachvollziehbarer Vorbehalte (die als Anlass zu seiner präziseren Bestimmung genommen werden) schließlich nicht nur beibehalten wird, sondern sogar in den Titel rückt, besteht "religion" den Anachronismus-Test nicht. Das bringt der Autor auf die programmatische Formel "Christianization without religion" (5), die angesichts des skizzierten Inhalts des Buches irritierend wirken muss - er selbst nennt sie denn auch "a paradoxical catchphrase" (218). Tatsächlich klingt die Formel provokanter, als sie gemeint ist. Was ausgeschlossen werden soll, ist nämlich nicht die (wie auch immer zu umschreibende) Sache, sondern der Begriff.
Schon diese letzten Bemerkungen erweisen das Buch von Nathan J. Ristuccia als thought provoking. Auch wenn es in seinem Ansatz doch wohl weniger revolutionär ist, als uns der Autor erklären möchte, lohnt sich die Lektüre nicht nur wegen der vielen Einsichten im liturgiegeschichtlichen Detail, auf die hier kaum eingegangen werden konnte, sondern vor allem, um sich zu einem erneuten, vertieften Nachdenken über den Prozess der Christianisierung anregen zu lassen.
Anmerkungen:
[1] Andreas Heinz: Bittprozession, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, 3. Aufl., Freiburg/Br. [u. a.] 1994, Sp. 512-514.
[2] Ebd., Sp. 513.
[3] Darin erinnert das Buch an Philippe Buc: The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton / Oxford 2001.
Stephan Waldhoff