Claus Gossler (Hg.): Die Lebenserinnerungen des Hamburger Architekten Martin Haller (1835-1925). Porträt einer großbürgerlichen Epoche der Hansestadt (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs; Bd. 68), Göttingen: Wallstein 2019, 780 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3495-3, EUR 49,90
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Mit den neuen Zeiten konnte sich der betagte Baumeister des Hamburger Großbürgertums nicht mehr so recht anfreunden. Martin Haller hatte sich 1913 dazu entschlossen, aus der Warte eines erfüllten Berufslebens, das seine Heimatstadt mit hunderten Wohnhäusern und Villen, dutzenden Banken und Hotels, aber auch mehreren Krankenhäusern und Ausstellungsbauten bereicherte, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Als er im Herbst 1920 - kurz vor seinem Tod - die letzte der elf jeweils gut hundertseitigen Kladden abschloss, lagen der Erste Weltkrieg und die Novemberevolution bereits zurück. Den Zeitgenossen musste Hallers Baukunst, geprägt vom imperialen Pomp des Frankreichs Napoleons III. und selbst wiederum das kaiserzeitliche Norddeutschland prägend, nunmehr als Exponent überkommener Verhältnisse anmuten.
Zwar hatte das 100. Jubiläum des 1897 vollendeten Hamburger Rathausbaus - Hallers Lebensaufgabe - das Wirken des aus einer einflussreichen Senatorenfamilie mit jüdischen Wurzeln stammenden Architekten schlaglichtartig wieder in den Fokus gerückt. Doch sind es wohl erst die programmatisch "Wachsende Stadt" des 21. Jahrhunderts mit ihrer rapide schwindenden historischen Bausubstanz und damit einhergehende Fragen des Denkmalschutzes, welche zuletzt die Aufmerksamkeit auf Hallers umfangreiches und abwechslungsreiches Schaffen auch in der Breite lenkten.
Unter diesen Rahmenbedingungen erschienen im letzten Jahr gleich zwei Publikationen, die auf den seit 1963 im Staatsarchiv Hamburg liegenden Lebenserinnerungen Hallers fußen. Während Karin von Behr daraus eine knapp 200-seitige Biografie destilliert hat [1], ist es das Verdienst des vorliegenden, 780 Seiten starken Bandes, die bisher nur in Auszügen [2] transkribierten Notizen Hallers komplett zugänglich und wissenschaftlich verwendbar zu machen. Dabei begnügt sich Herausgeber Claus Gossler nicht nur damit, zusätzlich zu einer kundigen Einführung (8-27) Auskunft über die Editionsprinzipien zu geben und Hallers Seitenzählung durch Glossierung durchgängig nachvollziehbar zu machen. Vielmehr ist das augenfälligste Charakteristikum dieser vom Verein für Hamburgische Geschichte edierten, von der Sutor-Stiftung maßgeblich finanzierten und von vielen individuellen Helfern im Detail unterstützten Fleißarbeit der umfangreiche Fußnotenapparat, dessen Einzeleinträge - bei aller Prägnanz - zuweilen enzyklopädisch anmuten. Wie darüber hinaus die beiden für sich schon gewichtigen (Personen- und Firmen- zum einen sowie zum anderen Sach- und Orts-)Register (695-780) erahnen lassen, darf man zu Recht eine Fülle von Einzelheiten und Individuen erwarten, die Haller in seinen Lebenserinnerungen aufbot. Gerade für die ausschweifend und zuweilen katalogartig in den ersten beiden Kladden memorierten Verwandtschaftsverhältnisse sind die Kommentierungen ein dankbares Hilfsmittel und machen die Lektüre bis zur nächsten von Hallers zahlreich eigeflochtenen Kindheits- und Jugendanekdoten kurzweiliger. Dass im Text gleiche Personen auch bei kurz (291) oder unmittelbar (635) aufeinanderfolgender Nennung jeweils mit Querverweisen bedacht werden, erscheint dabei zwar mitunter verzichtbar, ist aber für den Nutzen des Bandes als gewissermaßen gleichzeitiges Nachschlagewerk für Hamburgs Bürgertumsgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wertvoll und letztlich konsequent.
Bemerkenswert ist zudem, dass es Gossler dank seiner weitreichenden Recherchen gelingt, hie und da vorkommende Erinnerungslücken Hallers, etwa hinsichtlich Vornamen oder Lebensdaten von Weggefährten, zu ergänzen respektive zu korrigieren - was dann nicht ohne Süffisanz geschieht (so etwa 272, Fn. 331). Dass dem Herausgeber dabei ganz selten mal gleichermaßen anachronistische Zuordnungen unterlaufen (230, Fn. 119; 531, Fn. 177), ist unter dem Eindruck der geleisteten Anstrengungen kaum der Rede wert.
Zur vielfältigen Gestalt der Edition tragen eine Handvoll ergänzender Texte (669-674), ein die einzelnen Kapitel zusätzlich erschließender Lebenslauf (675-679) sowie ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und Literatur (680-691) bei. Komplettiert wird das Gesamtbild durch die vereinzelte Einbindung kleinerer Skizzen Martin Hallers aus den Manuskripten als auch eine Reihe von Illustrationen, mehrheitlich Fassadenaufrisse von Hallers Hand. Sie sind - thematisch passend - gehäuft in den von Erinnerungen an einzelne - insbesondere auch weibliche - Bauherren und ihre jeweiligen Aufträge dominierten achten und neunten Kladden (446-518) eingeschaltet.
Schon die Inhaltsverzeichnisse, mit denen Martin Haller bereits selbst seine Aufzeichnungen zu gliedern suchte, verraten, dass die Schilderung berufsbezogener Episoden zwar ein sich durchziehendes, aber keineswegs alleiniges Interesse Hallers darstellten. Eine Kindheitsvergnügungen Hallers in sich versammelnde, ebenso nostalgisch wie minutiös beschriebene Wanderung auf der Elbchaussee von Nienstedten nach Altona (104-154) und die an Lebenserfahrungen auch über sein drittes Lebensjahrzehnt hinausweisende Ausbildung in Potsdam, Berlin und Paris bilden dabei längere Narrative der ersten fünf chronologisch gegliederten Kladden. Zu ihnen gehören aber auch kürzer, und doch nicht minder lebensnah beschriebene Momente der eigenen Vita, die Haller geschickt mit Hamburgensien zu verknüpfen wusste, die schon aus der Sicht des späten 19. Jahrhunderts wie aus der Zeit gefallen wirkten. So wie die ungeliebte Pflicht des Wehrdienstes im 1866 aufgelösten Bürgermilitär, dem sich Haller nach zweiwöchigem Herumlavieren durch die Finanzierung eines ihm unbekannt bleibenden Stellvertreters entzog - und damit sichtlich gut leben konnte: "Die Uniform blieb - wohl eingecampfert - als Curiosum noch lange Zeit in der Polterkammer aufbewahrt, bis sie und die Waffen von meiner Gattin an einen Trödler veräußert wurden" (296). Das Kennen- und Liebenlernen seiner Frau Antonie im Jahr 1864 beinhaltete offenbar nicht nur Bälle "ohne Mutterschutz", nach denen "der Verehrer, der die junge Dame auf der Heimfahrt begleitete, auch wohl manchmal mit ihr gemeinsam die gefrorenen Wagenscheiben aufthaute" (349), sondern auch ganz sittsame Vergnügungen auf dem noch als kleiner innerstädtischer Jahrmarkt organisierten Dom rund um den Gänsemarkt (355-358).
Der genaue Blick Hallers auf den rasanten Wandel, den Hamburg von der 150.000-Einwohner-Stadt, in die er - vor dem Großen Brand - geboren worden war, hin zur Millionenmetropole seines Lebensabends erlebte, ist auch für die eher thematisch sortierten sechs späteren Kladden bezeichnend. Der technische Fortschritt stetig neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel und die Umgestaltung der Wallanlagen (366-372) interessieren ihn ebenso wie historisch-topografische Beobachtungen, die er sich offenbar schon früh mittels eines Stadtplans von 1845 im väterlichen Arbeitszimmer vor Augen geführt und anschließend erlaufen hatte (619-626).
Ein besonderes Verhältnis entwickelte er zum Alstersee - schon bevor er 1862 mit einem ersten daran angrenzenden Privathausbau beauftragt wurde (98). Zahlreiche verwandtschaftliche Sommeraufenthalte und Umzüge machten Haller schon in Jugendjahren mit den Vororten Nienstedten und Hamm, der Hamburger Neustadt und allen Alsterufern (die Familie wohnte abwechselnd am Holzdamm, Alsterdamm, in der Großen Theaterstraße und am Jungfernstieg) vertraut. Freimütig gibt er zu, dass die offenbar viele Sinne ansprechende Körperpflege des sechsjährigen Martin Haller im inmitten der Binnenalster liegenden Donner'schen Badeschiff auch den gealterten Mann noch alltäglich begleitete (163-164). Folgerichtig bestehen die letzten beiden Kladden in einem zahlreiche Aspekte erschöpfenden "Spaziergang" um dieses stadtbildprägende Bassin (557-666).
In diesem räumlichen Umfeld wusste Haller unter seinen Bauten auch einige seiner "Lieblingskinder" zu verorten, mit denen er sich im Übrigen in koketter Unbescheidenheit auf ein Podest mit Shakespeare, Schiller, Rubens, Tizian oder Raffael zu stellen erlaubte (418-419). Es lohnt sich, diesen Ehrgeiz des erfolgreichen Architekten auch bei nicht umgesetzten Planungen zu Projekten zu verfolgen, die gegenwärtig teilweise stadtplanerisch (wieder) auf der Agenda stehen oder bereits umgesetzt werden. In mancher Hinsicht geradezu prophetisch etwa lesen sich seine Überlegungen zur Gestaltung des Umfelds von Dammtor- und Hauptbahnhof (414-415). Nicht zuletzt hier zeigt sich, dass es Martin Haller genau wie seine von ihm gegen Ende des Wilhelminismus noch unverstandenen jungen Zunftkollegen, die er als "Apostel des neuen Kunstevangeliums" schmähte, welche "einen neuen 'Städtebau'" verkünden würden und "die Fachzeitschriften mit ihren öden Tiraden" (392) füllten, verdient, stärker rezipiert zu werden. Mit dem vorliegenden, hervorragend edierten Fundus seiner so bunten Lebenserinnerungen sollte dem nun nichts mehr im Wege stehen.
Anmerkungen:
[1] Karin von Behr: Martin Haller 1835-1925. Privat- und Luxusarchitekt aus Hamburg, Hamburg 2019.
[2] Renate Hauschild-Thiessen (Bearb.): Martin Haller. Erinnerungen an Kindheit und Elternhaus, Hamburg 1985.
Dominik Kloss