Giuliano Ferretti: Les États de Savoie, du duché à l'unité d'Italie (1416-1861) (= Recontres; 417), Paris: Classiques Garnier 2019, 683 S., ISBN 978-2-406-09415-9, EUR 58,00
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Im Jahr 1682 kam in Amsterdam das monumentale Druckwerk Theatrum Statuum Sabaudiae heraus, eine umfassende Darstellung mit Ortsansichten und geographischen Karten des Herrschaftsgebietes des Herzogs Karl Emmanuel II. von Savoyen. Das Werk präsentierte Geschichte, Wirtschaft und Kultur der "Staaten" des savoyischen Hauses. Zu diesen gehörte Piemont mit der Haupt- und Residenzstadt Turin, ferner das Aostatal, zudem Savoyen mit der früheren Fürstenresidenz Chambéry und schließlich die Grafschaft Nizza, die den savoyischen Herzögen einen Zugang zum Mittelmeer sicherte. Immerhin war Karl Emmanuel erst 1672/73 mit seinem Versuch gescheitert, Genua und Ligurien ebenfalls seiner Herrschaft zu unterwerfen. Erst beim Wiener Kongress 1815 kam der ligurische Küstenstreifen zu den savoyischen Staaten, zu denen seit 1720 auch die Insel Sardinien gehörte. Dieser heterogene Herrschaftsraum des Hauses Savoyen wurde im Verlauf der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert auseinandergerissen, als sich Piemont seit 1848 zum Zentrum der italienischen Nationalbewegung entwickelte. Nachdem Napoleon III. die Piemontesen 1859 im Krieg gegen Österreich um die Lombardei unterstützt hatte, fielen ein Jahr später Savoyen und Nizza nach Volksabstimmungen an Frankreich. Seitdem verläuft die erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 definitiv fixierte französisch-italienische Grenze in etwa auf dem Hauptkamm der Cottischen Alpen. Es blieb aber eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft, den alten Herrschaftsraum des Hauses Savoyen, den das Theatrum 1682 so prachtvoll inszeniert hatte, wieder zum Gegenstand einer historischen Gesamtbetrachtung zu machen.
Dies ist das Anliegen des Sammelbandes, der von der Erhebung Savoyens zum Herzogtum 1416 bis zum Einschluss Piemonts und Sardiniens in das neue Königreich Italien 1861 die Entwicklung der savoyischen Staaten behandelt, unabhängig von den im 19./20. Jahrhundert oktroyierten nationalstaatlichen Wahrnehmungsrastern. Giuliano Ferretti, der als Herausgeber fungiert, lehrt neuere Geschichte an der Universität Grenoble und an der zweisprachigen Universität des Aostatals, beidseits der Alpen, in Frankreich und in Italien. Die Autorenschaft des Bandes rekrutiert sich in analoger Weise gleichmäßig aus Angehörigen französischer und italienischer Lehr- und Forschungseinrichtungen, so dass ein aktueller und anregender Querschnitt durch die europäische Historiographie der savoyischen Staaten vorliegt. Dabei entspricht es dem Darstellungskonzept, zunächst einmal vom Fürstenhaus auszugehen und dann Staat und Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Eingangs behandelt Valerio Gigliotti (Turin) den "langen Herbst" des savoyischen Mittelalters, mit dem vom Basler Konzil zum Gegenpapst erhobenen ersten Herzog Amadeus (VIII.) als Hauptfigur, während Andrea Merlotti (Turin) den fürstlichen Hof und die reiche Residenzlandschaft Savoyens zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert präsentiert. Weitere Kapitel, aus der Feder mehrerer Autoren stammend, widmen sich den Institutionen des savoyischen Fürstenstaates, seinen Außenbeziehungen sowie der Neuausrichtung des Gebietes, dessen politischer Schwerpunkt sich nach Italien verschob, versinnbildlicht durch die Erhebung Turins zur Hauptstadt anstelle von Chambéry (1563). In eigenen Abschnitten behandelt sind die wirtschaftliche und die demographische Entwicklung sowie die religiösen Verhältnisse dieses vom gegenreformatorischen Eifer der Herzöge geprägten Landes. Besonders berücksichtigt wird das Aostatal, dessen an der französischen Hochsprache ausgerichtete regionale Kultur nach der politischen Einigung der Halbinsel im 19. Jahrhundert zu einer Herausforderung für den italienischen Nationalismus werden sollte. Hier lebte der für das alte Savoyen insgesamt kennzeichnende lokale Partikularismus in signifikanter Weise fort. Der chronologischen Strukturierung des Bandes folgend, widmen sich die drei letzten Kapitel den revolutionären Umbrüchen zwischen 1792 und 1861 und dem "Ende Savoyens", das in anderer Perspektivierung eben ein Aufgehen in zwei verschiedenen Nationalstaaten war.
Obgleich 22 Autoren mit längeren oder kürzeren Beiträgen an dem Band beteiligt waren, ergibt sich doch ein geschlossenes Gesamtbild, das alle wesentlichen Aspekte dieser recht komplizierten Territorialgeschichte berücksichtigt. Insofern wurde das Versprechen wirklich eingelöst, welches der Herausgeber in seiner Einleitung gemacht hatte, nämlich diesem "supranationalen Staatswesen" eine Vergangenheit zurückzugeben, die seiner geopolitischen Komplexität entspricht. Daher handelt es sich um einen wichtigen Beitrag zum historischen Verständnis des Alpenraumes und der verschiedenen Wechselwirkungen, die ihn geprägt haben.
Thomas Nicklas