Susanne Lachenicht: Atlantische Geschichte - im Gedenken an Bernard Bailyn. Einführung, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 9 [15.09.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Susanne Lachenicht
Dieses siebte (kleine) FORUM zur Atlantischen Geschichte ist Harvard-Professor Bernard Bailyn gewidmet, einem der wichtigsten Begründer- bzw. Vertreter*innen der Atlantischen Geschichte respektive der Geschichte Nordamerikas, der am 7. August 2020, fast 98-jährig, verstarb.
Professor Bailyn gehört zu den wenigen Wissenschaftler*innen, die im Laufe ihres Lebens den Pulitzerpreis nicht nur ein-, sondern gleich zweimal gewannen, 1967 für die bahnbrechende Studie The Ideological Origins of the American Revolution, die noch heute für das Verständnis der Amerikanischen Revolution und das Werden der USA grundlegend ist, und 1987 für Voyagers to the West. A Passage in the Peopling of America on the Eve of the Revolution, eine Arbeit zur Migration britischer Farmer in die Dreizehn Kolonien Nordamerikas in den 1770er Jahren. Neben vielen anderen Auszeichnungen und Ehrungen (darunter elf Ehrendoktorwürden) wurde Bernard Bailyn 2010 vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama die National Humanities Medal verliehen.
Mit seinem Harvard Atlantic History Seminar, das er nach seiner Emeritierung 1995 gründete, legte Professor Bailyn einen der wichtigsten internationalen Grundsteine für eine transnationale und transimperiale wissenschaftliche Erforschung der so genannten Atlantischen Welt, d.h. der Beziehungen zwischen unterschiedlichsten Akteur*innen im Atlantischen Raum und deren Wirkungen auf Amerika, Europa und Afrika zwischen dem 15. und dem frühen 19. Jahrhundert (https://sites.fas.harvard.edu/~atlantic/index.htm). Nicht zuletzt leistete das Harvard Atlantic History Seminar auch, dass Forscher*innen aus Dutzenden von Ländern mit ihren vielfältigen Fragen, Forschungsparadigmen und -traditionen in Kontakt kamen und sich bis heute ein internationales, offenes Forschungsfeld zur Atlantischen Geschichte entwickelt hat, das immer wieder neue wichtige Themen hervorbringt und behandelt. Bernard Bailyns Atlantic History: Concepts and Contours (2005) und Soundings in Atlantic History (2009) gehören zu den wichtigsten Einführungen in das Thema Atlantische Geschichte.
Die Summer Academy of Atlantic History (SAAH), die 2021 zum siebten Mal stattfinden wird und 2009 von Susanne Lachenicht und Lauric Henneton als europäisches Pendant zum Harvard Atlantic History Seminar gegründet wurde, verdankt Professor Bernard Bailyn nicht nur seine enthusiastische intellektuelle Unterstützung als Ehrenmitglied des Steering Committee (https://www.fruehe-neuzeit.uni-bayreuth.de/en/conferences-workshops/Summer-Academy-of-Atlantic-History/index.html). Sein "So what?" ist allen, die Professor Bailyn gekannt haben, als mahnende Frage für das "relevant-Sein und Machen" von Geistes- und Geschichtswissenschaften und ihre Pflicht, sich den großen Fragen der jeweiligen Gegenwart durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit zu widmen, eingebrannt - Professor Bernard Bailyn war und ist einer der Riesen, auf deren Schultern wir stehen (siehe dazu auch Robert K. Mertons On the Shoulders of Giants, das die Form eines Briefes an seinen Freund Bernard Bailyn hat).
Wir beginnen das FORUM mit Thomas Dorfners (Aachen) Besprechung einer kritischen Quellenedition der Diarien und Lebensläufe Hallescher Pastoren in Pennsylvania, die von dreien der wichtigsten Kenner des Halleschen Pietismus in Britisch-Nordamerika, nämlich Mark Häberlein, Thomas Müller-Bahlke und Hermann Wellenreuther, herausgegeben wurde und hier in zwei Bänden vorlag. Diese Edition (bzw. die noch folgenden Bände) stellt einen wichtigen Meilenstein dar für die Erforschung dessen, was heute als German Atlantic bezeichnet wird und in dem protestantische Missionen und ihre Netzwerke eine herausragende Rolle spielten.
Darauf folgt Volker Depkats (Regensburg) Rezension von Jennifer Ratner-Rosenhagens The Ideas That Made America, das einerseits in der Tradition von Bernard Bailyns The Ideological Origins of the American Revolution steht, andererseits diese aber auch im Sinne einer "new intellectual history" weiterentwickelt. Ratner-Rosenhagen untersucht, welche Protagonisten, Ideen, Narrative und Deutungskämpfe in den historischen Phasen des Werdens der Vereinigten Staaten von Amerika, konkret von der kolonialen Zeit bis in die 1990er Jahre, wirksam bzw. funktionalisiert wurden. Atlantische bzw. transatlantische "Links" sind hier immer wieder ein Thema im Sinne eines "exchange and transfer of ideas".
Kenneth Owens Political Community in Revolutionary Pennsylvania 1774 - 1800 (besprochen von Alexander Knirim (Bayreuth)) zeigt, wie wichtig die Analyse von politischen Gemeinwesen und ihren Traditionen gerade auch für das Verständnis der heutigen USA und ihrer vielfältigen, die Nation spaltenden Varianten des "amerikanischen Geistes" ist. Owen unterstreicht in seiner Studie die Rolle von einfachen (Untertanen und) Bürgern und ihrem politisch-demokratischen Handeln für politischen Wandel. Die historische Perspektive eröffnet wichtiges Reflexionspotential für das Nachdenken über das heutige Amerika, die Diversität und Konkurrenzen politischer Akteur*innen und ihrer Vorstellungen von einem demokratisch-republikanischem Gemeinwesen.
Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre!