Tobias Teutenberg: Die Unterweisung des Blicks. Visuelle Erziehung und visuelle Kultur im langen 19. Jahrhundert (= Image; Bd. 133), Bielefeld: transcript 2019, 348 S., 133 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-4326-8, EUR 34,99
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Das Buch ist als kunsthistorische Promotionsarbeit an der LMU München entstanden, wo schon seit längerer Zeit intensive und fruchtbare Quellenforschungen über den Zusammenhang von historischer Kunstlehre, Zeichenunterricht und Wahrnehmungsbildung betrieben werden. Teutenbergs Studie ist ein hochinteressanter Beitrag zu den Kontexten der Entstehungsgeschichte der modernen Kunstpädagogik und zugleich der modernen Kunstwissenschaften. Sie zeichnet eine Traditionslinie nach, die den vormodernen und modernen Zeichenunterricht mit der Kunstgeschichtswissenschaft verbindet: In der Bemühung um ein "richtiges", d.h. elaboriert gebildetes Sehen, das den überlieferten Kunstwerken wahrnehmend und betrachtend zu entsprechen vermag, strebten die Anschauungspädagogen und Protagonisten der Blick-Bildung im "langen 19. Jahrhundert" vor allem eine "Systematisierung des Blicks" an.
Teutenberg leistet einen wichtigen Beitrag zu einem Projekt, das einmal Gottfried Boehm als Forschungsdesiderat benannt hat: eine Geschichte des Sehens. [1] Dazu sind seither schon etliche Beiträge geleistet worden - hermeneutische und theoriegeschichtliche Studien, kulturhistorische und kunsthistorische Studien, handlungstheoretische Studien, aber auch kunstpädagogische Studien. Sie alle gemeinsam haben geholfen, unser Verständnis davon, was unter "Sehen" zu verstehen ist, vom "naturalistischen Vorurteil", wie es Boehm nennt, zu befreien.
Vor allem der Zusammenhang zwischen Erziehung bzw. Bildung und Sehen wird in Teutenbergs Studie in erhellender Weise entfaltet. Er zieht die Traditionslinien der Bildungsgeschichte des Sehens im "langen 19. Jahrhundert" aus, bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts, aber auch zurückgreifend bis ins 17. und 18. Jh.: von Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Herbart, Schmid, Ramsauer, Stuhlmann, Flinzer usw. bis hin zu Sully und Kerschensteiner. Was im Rahmen der kunstpädagogischen Forschung schon von W. Kemp und H. Skladny ergründet wurde, wird bei Teutenberg noch tiefer und auch breiter erforscht. Er zeigt, wo die Bemühungen der Anschauungs- und Blickerzieher ihren Ausgangspunkt nahmen, wie sie später zunehmend in das Einzugsgebiet des Formalismus und Geometrismus gerieten, bis es schließlich zum Phänomen des von Teutenberg so genannten "erkalteten" Blicks kam und zum Mythos des "rhythmisierten" Blicks - alles Sehe- und Denkformen, die beträchtliche Wirkung in der Kunstgeschichtswissenschaft dieser Zeit entfaltet haben (z.B. Wölfflin, Schmarsow, Pinder, Panofsky...). Der zur geometrischen und rhythmischen Regel tendierende Blick - ein merkwürdiges Amalgam von angestrebtem Positivismus, formalisierendem Idealismus und "künstlerischer" Sehe-Kraft - ist ein Geburtsmerkmal, das sich manche Strömungen der modernen Kunstgeschichtswissenschaft mit der modernen Kunstpädagogik teilen - und man fragt sich manchmal, von welcher der beiden Seiten die stärkere Wirkkraft ausging.
Vielleicht ist diese Frage aber auch falsch gestellt. Wichtiger ist, darauf zu sehen, dass sowohl die "Kunsterziehung" als auch die "Kunstwissenschaft" aus dem Kraftfeld der Künste selbst stammen. Und aus diesem Kraftfeld entsprangen schon in der Antike die ersten Formen sowohl der Kunsthistorie und Kunstkritik wie auch einer "Betrachtungskunst", die dazu dienen sollte, Kunstwerke in angemessener Form, also "richtig" zu sehen - vgl. dazu die erhellende Untersuchung von Koch 2013. [2] Es ist also der "künstlerische" Grundzug des gestaltenden Zugriffs, der die Werkproduktion, die Werkbetrachtung und die "Unterweisung des Blicks" systemisch verbindet - einmal mehr geometrisch kalt, einmal mehr rhythmisch-affektiv. Es sind Spielarten einer Betrachtungskunst, die nicht unbedingt den positivistischen Wissenschaftsidealen der Moderne entspricht, obwohl sie doch - und das ist das Paradox, auf welches man in Teutenbergs Studie immer wieder stößt - durch und durch von der Sehnsucht nach dem unverrückbar richtigen und wahren (Er-)Blicken bewegt werden.
Aristoteles war noch davon ausgegangen: "Wahrnehmung ist immer wahr". Das Bemühen um die richtige "Unterweisung des Blicks", deren Zeugnissen Teutenberg im 19. Jahrhundert nachgeht, verhält sich diesbezüglich ambivalent: Einerseits hat sich offensichtlich das Vertrauen verloren, dass der Blick von sich aus, also sozusagen im Zustand des "unschuldigen Auges", die Kraft zum richtigen Erblicken hat. Dieser skeptische Zweifel motiviert das pädagogische Eingreifen. Andererseits ist genau diese pädagogische Hilfestellung bewegt von der Hoffnung, durch methodische Disziplinierung der Wahrnehmung wieder einen Wahrheitsanspruch des Sehens zu sichern: Der methodisch zugerichtete Blick soll das Fundament und Instrument der angemessenen Betrachtungskunst von Kunstwerken sein.
Diese künstlich anerzogene Form des Betrachtens begründet mithin eine kunstaffine, ja ihrerseits künstlerische Interpretationspraxis vor Kunstwerken. Doch sie verstellt zugleich den Zugang zu den Werken sehr gründlich, weil sie den Blick "erkalten" lässt. Dieser kalte Blick verliert die Nähe zum Kunstwerk, die er doch zu gewinnen hoffte. Er kann nicht mehr angemessen auf die affektiven Energien und Bedeutungsschichten des Werkes reagieren und antworten, sondern verstrickt sich in seine eigene Methode. Dieses Paradox arbeitet Teutenberg überzeugend heraus.
Die gedankenreiche und erhellende Studie ist ein gewichtiger Beitrag zu der bis heute noch weitgehend unbegriffenen Bildungsgeschichte des Sehens im Boehmschen Sinne. In ihr spielt die lange und tief wirkende Tradition der Kunstlehre selbst eine fundamentale Rolle. Aber ebenso beteiligt sind die Wirkkräfte der Pädagogik/Didaktik und die Einflüsse der modernen Kunstwissenschaft, die ebenfalls mit dem Problem des "richtigen" Sehens ringen und normative Maßstäbe herauszuarbeiten bzw. einzubringen versuchen. Aus all dem zusammen ist der Zusammenhang einer "visuellen Kultur" gebildet, deren Tradition wir uns bis heute nicht entziehen können. Doch hermeneutisch-kritische Reflexion ist möglich. Sie hilft sowohl der Kunstwissenschaft wie der Kunstpädagogik zur Selbstbesinnung.
Anmerkungen:
[1] Gottfried Boehm: Sehen. Hermeneutische Reflexionen, in: Kritik des Sehens, hg. von Ralf Konersmann, Leipzig 1997, 272-298.
[2] Nadia J. Koch: Paradeigma. Die antike Kunstschriftstellerei als Grundlage der frühneuzeitlichen Kunsttheorie, Wiesbaden 2013.
Hubert Sowa