Harro Zimmermann: Ein deutscher Gotteskrieger? Der Attentäter Carl Ludwig Sand. Die Geschichte einer Radikalisierung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, XVI + 347 S., ISBN 978-3-506-70309-5, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Heike Talkenberger: Gauner, Dirnen, Revolutionäre. Kriminalität im 19. Jahrhundert, Darmstadt: Primus Verlag 2011
Birgit Metzger: "Erst stirbt der Wald, dann du!". Das Waldsterben als westdeutsches Politikum (1978-1986), Frankfurt/M.: Campus 2015
Almut Leh / Hans-Joachim Dietz: Im Dienst der Natur. Biographisches Lese- und Handbuch zur Naturschutzgeschichte in Nordrhein-Westfalen (1908-1975), Essen: Klartext 2009
Die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue am 23. März 1819 und die Beweggründe seines Mörders, des Theologiestudenten Carl Ludwig Sand, sind Gegenstand zahlreicher populärer, literarischer und wissenschaftlicher Publikationen. Dabei erweist sich der Mord an Kotzebue "von Anbeginn an als unversiegbarer Quell von Fragen und Vermutungen, Behauptungen und Verdächtigungen, von Irritationen und Geschehensprojektionen" (31). Zum ersten Mal wurde in der neueren deutschen Geschichte aus politisch-ideologischen Gründen ein Mordanschlag auf eine Person verübt, ohne dass diese ein "Tyrann" gewesen wäre. Ursache für die Ermordung Kotzebues war letztlich wohl dessen öffentliche Kritik an Burschenschaften, Turnern und der deutschen Nationalbewegung. Indem der Mörder sein Opfer als "Erzknecht und Schutzschild dieser feilen Zeit" und "Verderber und Verräther meines Volkes" bezeichnete (270), beanspruchte er eine moralische Rechtfertigung seiner Tat und zog zugleich den Kreis möglicher weiterer Opfer recht weit. Der gescheiterte Selbstmord von Sand im Anschluss an die Tat, seine geradezu freudige Hinnahme des Todesurteils und sein religiös-gefasstes Verhalten bei seiner Hinrichtung übten eine starke Faszination auf seine Zeitgenossen aus. Sand wurde in nationalistischen Kreisen zum Märtyrer und seine Tat spaltete die Gesellschaft: Sie erregte bei den einen Abscheu und eine paranoide Furcht vor Anschlägen, bei den anderen wurde sie zum Ausgangspunkt einer regelrechten Verehrung von Sand und eines Kultes um seine Person. Nach dem Wartburgfest von 1817 zog die studentische Nationalbewegung damit erneut die öffentliche Aufmerksamkeit mit einem Fanal auf sich, da Sand der Jenaer Burschenschaft angehört hatte. Für die Behörden bot die Mordtat einen Anlass für die Karlsbader Beschlüsse von 1819, die ein Verbot von Burschenschaften und Turnvereinen sowie eine Überwachung von Universitäten und der Presse zur Folge hatten.
Zimmermann sieht in dem Mord an Kotzebue einen Terrorakt, der "der Öffentlichkeit eine Heldentat und eine Passionsgeschichte vor Augen führen" (XII) und einen Beitrag zur "Volksfreiheit" leisten sollte. Selbstermächtigung und Selbstinszenierung des Täters gingen dabei Hand in Hand. Die Grundlage bildete neben einem spezifischen Ehrbegriff eine Deutschtumsideologie, "ein eschatologisch aufgeladenes Seelen- und Geistesgeflacker, ein agonales Brouillon aus verblichenem Aufklärungsanspruch, romantischer Staats-Körper-Organologie, völkischem Ursprungs- und Reinheitsgeraune, religiöser Erweckungsinbrunst und frühnationalistischem Freiheits- und Republik-Pathos" (XIII). Der Hauptteil des Buches ist in acht Abschnitte untergliedert: Nach einem einleitenden Prolog stellt Zimmermann zunächst die Mordtat von der Planung bis zur Ausführung dar, danach das zeitgenössische Echo auf den Mord, sodann den biografischen, weltanschaulichen und religiösen Hintergrund des Täters. Die Prägung von Sand als Mitglied studentischer Verbindungen schließt sich an, gefolgt von einem weiteren Abschnitt über die wichtige Zeit und die Einflüsse an der Universität Jena, danach Haft, Prozess und Hinrichtung sowie schließlich die Stellungnahmen der Zeitgenossen zum Phänomen des politischen Mordes. Im letzten Abschnitt gibt Zimmermann einen Ausblick auf die Zeit des Vormärz sowie einen Überblick über Zeugnisse des National-Kults um Sand und den literarischen und populären Widerhall bis in die Gegenwart, wobei auch die Rolle von Sand als Identifikationsobjekt für Nationalsozialisten erwähnt wird. Den Abschluss des Bandes bilden ein Anhang mit Schriften von Sand sowie eine Bibliographie.
Auf der Grundlage einer gründlichen Auswertung der Quellen behandelt Zimmermann die psychologischen Hintergründe der Tat und geht insbesondere auf das strengreligiös-pietistische Elternhaus und die Kriegserfahrungen des Täters ein. Zugleich werden auch die zeitgenössischen Stellungnahmen zu der Tat umfassend dargestellt. Die vielen geradezu begeisterten Äußerungen belegen, dass der Mord an Kotzebue in einem geistigen Umfeld revolutionärer Tatbereitschaft und quasireligiöser Heilserwartung auf Zustimmung stieß. Zwar steht für Zimmermann fest, dass Sand ein Einzeltäter war, doch fand dieser mit seinem "religiös-politischen Rigorismus" (75) im radikalen burschenschaftlichen Kreis der "Unbedingten" um Karl Follen jenen Nährboden, der seiner "Überzeugungsenergie" (74) die Richtung gab, bis hin zum Mord zur Erringung der "Volksfreiheit" (176). Großen Einfluss auf Sand übte auch der Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries mit seinem Überzeugungs- und Tat-Idealismus aus, dessen Rolle als "politischer Professor" für den frühen deutschen Nationalismus von großer Bedeutung war. [1]
Zimmermann gelingt es, den historischen Kriminalfall spannend und quellennah darzustellen. Das sehr gut lesbare und eindrucksvolle Werk enthält zahlreiche Bezüge, so beispielsweise zu dem Mordanschlag auf den nassauischen Regierungspräsidenten Karl von Ibell vom 1. Juli 1819, ganz offenbar eine Nachahmungstat zu dem Mord an Kotzebue. Allerdings konnte hier Ibell den Täter abwehren und blieb am Leben. Der Täter, Karl Löhning, war Mitglied der frühnationalen "Deutschen Gesellschaft" in Idstein gewesen und besaß Verbindungen zu den "Gießener Schwarzen", einer radikalen burschenschaftlichen Vereinigung um Karl Follen. Er beging in der Haft Selbstmord. Besonders interessant ist hier, dass Ibell, ein liberaler Reformpolitiker und Gegner reaktionärer Bestrebungen, zum Ziel eines Mordanschlags eines nationalistischen Extremisten werden konnte. Zimmermann geht auch kurz auf den bei Sand wie in der frühnationalen studentischen Bewegung insgesamt feststellbaren Antisemitismus ein.
Die Selbstinszenierung von Sand, die Bekundungen aus studentischen Kreisen, aber auch die verbissene Fahndung der Behörden nach Verschwörungen und geistigen Hintermännern der Mordtat erschweren die wissenschaftliche Untersuchung der Vorgänge um den Mord an Kotzebue. Das mag dazu beigetragen haben, dass Zimmermann Sand überschätzt, wenn er diesen als Mitorganisator des Wartburgfests bezeichnet (2, 69). Dazu war der Täter mit seiner religiösen Schwärmerei und seiner beschränkten Auffassungsgabe (76) nicht in der Lage. Schon mit seinem Versuch einer burschenschaftlichen Erneuerung an der Universität Erlangen war er erfolglos, und sein Auftritt auf der Wartburg blieb weitgehend unbeachtet. Überschätzt wird auch die Rolle des seinerzeit eher verschlafenen Darmstadt als "Hotspot der hessischen Demokratiebewegung" (4).
Das Buch stellt eine der derzeit umfassendsten und detailliertesten quellennahen Darstellungen des Mordanschlags von Carl Ludwig Sand dar. Es ist eine Fundgrube für unterschiedliche Fragestellungen und bietet eine Fülle von Anregungen, Hinweisen und Quellentexten. Die späteren Auseinandersetzungen mit dem Mord und der National-Kult waren, wie Zimmermann zeigt, oft Projektionen und Ausdruck der eigenen Zeit, nicht der historischen Vorgänge. Die religiös-moralische Rechtfertigung, das daraus erwachsende Märtyrertum und die Selbstermächtigung von Sand bei seiner Tat sind allerdings zeitlos und verweisen auf spätere terroristische Gewalttaten. In diesem Sinne mag der Verfasser recht haben, dass vom "Leiden und Sterben des Attentäters Carl Ludwig Sand" etwas zurückbleibt, "ein Splitter im Fleisch des nationalen Gemüts- und Erinnerungskorpus" (264).
Anmerkung:
[1] Vgl. Klaus Ries: Das Wartburgfest von 1817 als die Geburtsstunde des "politischen Professorentums", in: Das Wartburgfest als europäisches Ereignis, hg. von Joachim Bauer / Stefan Gerber / Christopher Spehr, Stuttgart 2020, 263-277. vgl. hierzu die Rezension in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10.
Michael Wettengel