Christine Freytag / Sascha Salatowsky (Hgg.): Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte - Infrastrukturen - Praktiken (= Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit; Bd. 14), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, 320 S., 9 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-515-12010-4, EUR 58,00
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Möchte man das vormoderne Schulwesen vergleichend in den Blick nehmen, so zeigen sich schon durch eine unüberschaubare Vielzahl an lokal verankerten Bildungsverhältnissen im Alten Reich erste Schwierigkeiten. [1] Um diesem Problem zu begegnen, widmet sich die jüngere, bildungsgeschichtlich ausgerichtete Frühneuzeitforschung neben zeitlich, regional und methodisch differenzierten Zugängen aktuell auch der Integration von Spatial Turn, Netzwerk- und Kommunikationsforschung. Ein Desiderat bildungsgeschichtlicher Forschung, so konstatieren die Herausgeber in ihrer konzisen Einleitung, bleibt die Erforschung des Realunterrichts unter konfessionellen Aspekten. Eine wichtige Aufgabe innerhalb der Erziehungs-, Bildungs-, und Schulgeschichte sei es deshalb, auf der Ebene weiterer Mikro- und Makrostudien die konfessionell heterogenen Territorien und Städte verstärkt in den Blick zu nehmen, um Fragen konfessioneller "Eigentümlichkeiten" in Bezug auf das Schulwesen beantworten zu können.
Mit einem zeitlichen Schwerpunkt auf das 17. Jahrhundert stellen die insgesamt zwölf Beiträge des vorliegenden Sammelbandes die Schule als vielgestaltigen Wissensort und Stätte des Wissenstransfers in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die frühneuzeitliche Schulbildung wird dabei aus drei unterschiedlichen Perspektiven - 1. dem zwischenkonfessionellen Vergleich, 2. der Rezeption von Bildungskonzepten und 3. Institutionen und Praktiken - näher beleuchtet. Der Sammelband ist das Ergebnis einer aus dem Jahr 2014 in Gotha durchgeführten Konferenz "Frühneuzeitliche Bildungssystem im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte - Infrastrukturen - Netzwerke". [2] Aus dem Bestreben der Forschungsbibliothek Gotha, die Einbindung bedeutender Gothaer Quellen in die bildungsgeschichtliche Forschung zu fördern, waren bereits zuvor eine erfolgreiche Ausstellung [3] und ein gemeinsam mit dem Forschungszentrum Gotha durchgeführtes Forschungsprojekt [4] hervorgegangen.
In der ersten Sektion widmen sich gleich drei Beiträge, der von Stefan Ehrenpreis zu "Konfessionelle[m] Schulwesen und frühneuzeitliche[n] Bildungsinnovationen", von Martin Holý zu "Ähnlichkeit oder Differenz" und der von Andrea Ottens zu "Schule im Zeitalter der Konfessionalisierung" ausgewählten regionalen Fallbeispielen, um den Themenkomplex der Konfessionalisierung des Schulwesens zu illustrieren. Anhand der Kleinstadt Windsbach in Franken arbeitet Ehrenpreis in einer profunden Darstellung heraus, dass sich aus der Konkurrenzsituation unterschiedlicher Schulformen ein Innovationszentrum bilden konnte. Die Konflikte zwischen den Schultypen Latein- und Deutscher Schule konnten die religiös-kirchlichen als auch die ökonomisch-gesellschaftlichen Gestaltungskräfte mit Blick auf die Funktionen von Schule und Bildung gewinnbringend kombinieren. Martin Holý analysiert anhand einer detaillierten Quellenarbeit die verschiedenen Bildungssysteme in Böhmen, Mähren, in der Lausitz und in Schlesien. Der vergleichende Ansatz schafft es dabei nicht nur die Unterschiede der einzelnen Konfessionen innerhalb der Schulorganisation, ihrer Infrastruktur, den Bildungsinhalten und in den Netzwerken deutlich hervorzuheben, sondern auch ihre Gemeinsamkeiten.
Die im Anschluss folgenden Ausführungen von Andrea Ottens beleuchten am Beispiel der Lateinschule und des akademischen Gymnasiums in Lingen die konfessionellen Rahmenbedingungen unter landesherrlicher Schulverwaltung. Mit dem Versuch des reformierten Predigers Heinrich Pontanus (1652-1714) die Lateinschule umzugestalten und dadurch eine Art "Umerziehung" der Bevölkerung in eine reformierte Glaubensgemeinschaft zu erreichen, zeigt sich, welche Konflikte sich für die Grafschaft durch ein solches Handeln ergaben. Mit einer konfessionsvergleichenden Perspektive auf Unterrichtsinhalte untersucht Sascha Salatowsky die Frage, ob die Schule ein "konfessioneller Resonanzraum" gewesen sei. Als Unterrichtsinhalt wählt der Autor das Beispiel des philosophischen Ethikunterrichts an protestantischen Gymnasien und analysiert anhand protestantischer Lehrbücher der drei Konfessionen - dem Luthertum, Sozianismus und Reformiertentum - ob eine konfessionelle Prägung vorhanden war.
Den Blick auf die Rezeption unterschiedlicher Bildungskonzepte behandeln die Beiträge von Corinna Sonntag zu Melanchthons "Schola Domestica", Christine Freytag zur "Methodischen Vorgehensweise in der Gothaer Schulordnung von 1642", Thomas Töpfer zu "Veit Ludwig von Seckendorff" sowie Jost Eickmeyer und Reinhard Gruhl zu "Argutia und Gesprächsspiel" in der zweiten Sektion des Bandes. Corinna Sonntag nähert sich in ihren am Beginn der Sektion stehenden Ausführungen der vom Wittenberger Professor Melanchthon um das Jahr 1518 gegründeten Hausschule durch sowohl sozialgeschichtliche als auch bildungsinhaltliche Zugänge. Über die Rekonstruktion der Schülerbiografien sowie der Struktur der Hausschule kann die Autorin die zu Beginn aufgeworfene Fragestellung, ob den Hausschülern eine maßgeblich dem reformatorischen Protestantismus entsprechende Bildung vermittelt wurde, klar verneinen. Die Gothaer Schuldordnungen betrachtet Christine Freytag in ihrer Darstellung. Mit dem ambitionierten Ziel, durch eine allgemeine Kirchen- und Landesvisitation eine Veränderung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse zu bewirken, trat Herzog Ernst I. von Sachsen seine Herrschaft an. Deutlich stellt die Autorin dabei die Rolle Wolfgang Ratkes heraus, dessen Einfluss sich besonders in der Gothaer Schulordnung von 1642 widerspiegelt. Thomas Töpfer schließt mit der Analyse zeitgenössischer Rezeption der Gothaer Schulreformen an. Auf der Basis einer umfangreichen Quellenüberlieferung arbeitet der Autor am Beispiel Veit Ludwig von Seckendorff stringent heraus, welche Bedeutung dessen Reformimpulse der kirchlichen und schulischen Verhältnisse für die Entwicklung und Ausbreitung des Gothaer Bildungsprogramms hatte. Ebenso detailliert analysieren Jost Eickmeyer und Reinhard Gruhl zwei interkonfessionelle, methodische Konzepte zum "angemessenen geselligen Verhalten und zur Poetik einschlägiger Redegattungen" (213) (Argutia-Konzept). Die vergleichende Studie zu den Werken des Jesuiten Jacob Masen und des Lutheraners Georg Philipp Harsdörffer mit Blick auf Entstehungskontext und Wirkung zeigt, dass beide Autoren erfolgreich rezipiert und gewürdigt wurden.
Die dritte und damit abschließende Sektion vereint drei Beiträge zum Themenkomplex "Institutionen und Praktiken". Zum Auftakt widmet sich Maike Gauger-Lange der Integration sechs ausgewählter evangelischer Klosterschulen in die Verwaltung des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel. Die Autorin geht der Frage nach, ob die Klosterschulen den ihnen zugedachten Funktionen, zum einen selbst ein Verwaltungsgegenstand zu sein und zum anderen künftige Amtsträger auszubilden, erfüllten. Zur Beantwortung analysiert Gauger-Lange zunächst Aufbau und Entwicklungen der Klosterschulen und ihre Einbindung in die Verwaltung. Im Anschluss nutzt sie einen kollektivbiografischen Zugang, der sowohl Erkenntnisse zur geografischen und sozialen Herkunft, als auch Berufs- und Karrierewege der insgesamt 400 betrachteten Stipendiaten generiert. Nachfolgend zeigt Tobias Binkert in seinem Beitrag "Reichsgrafen als Schüler an akademischen Gymnasien" anschaulich, anhand welcher Kriterien sich die Reichsgrafenfamilien bei der Wahl des Schulorts für ihre Söhne leiten ließen. Am Beispiel drei unterschiedlicher Familien, der reformierten Hanau-Münzenberg, der lutherischen Löwenstein-Wertheim und der katholischen Truchsesse von Waldburg, erläutert der Autor, dass für den Besuch der Hohen Schule die konfessionelle Orientierung der jeweiligen Bildungsanstalt eine entscheidende Rolle spielte. Abschließend behandelt Kristina Hartfiel in ihrem Beitrag "Präsenz und Materialität von (Geschichts-) Unterricht?" das spannende Thema der Dinglichkeit des Unterrichts. Konkret untersucht die Autorin die Hypothese, in wie weit man anhand von Gebrauchsspuren und anderen Verwendungszeugnissen beispielsweise an Geschichtslehrbüchern Aussagen zu frühneuzeitlichen Formen von Unterricht und Bildung treffen kann. Mit einer Bestandsgeschichte und einer Bestandsaufnahme zu den Bibliotheken des Nürnberger Melanchthongymnasiums sowie des Jesuiten-Kollegs in Düsseldorf unterstreicht sie, dass die Relevanz der materiellen Eigenschaften der Buch-Objekte gängige Wissensmuster über das vormoderne Unterrichtsgeschehen durchaus stärken können.
Für die Nutzbarkeit des Sammelbandes haben die Herausgeber ein Personenregister bereitgestellt. Der überaus ansprechend lektorierte Band liefert in vielerlei Hinsicht wertvolle Beiträge zur gegenwärtigen Forschungsdiskussion und stellt durchweg einen Gewinn für die Erziehungs-, Bildungs-, und Schulgeschichte dar.
Anmerkungen:
[1] Für die Frühe Neuzeit war besonders der Bereich der privaten Vermittlung von Bildung charakteristisch. Der Unterricht wurde häufig durch Haus- oder Privatlehrer außerhalb der institutionalisierten Schulen vermittelt. Zu den vielfältigen Formen der privaten Bildungsvermittlung vgl. Wolfgang Neugebauer: Niedere Schulen und Realschulen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, hgg. von Notker Hammerstein / Ulrich Hermann, München 2005, 213-245.
[2] Siehe Tagungsbericht: Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte - Infrastrukturen - Netzwerke, 08.10.2014 - 10.10.2014 Gotha, in: H-Soz-Kult, 20.02.2015, verfügbar unter:
[3] Sascha Salatowsky (Hrsg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Katalog zur Ausstellung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt / Gotha in Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Friedenstein, Gotha 2013.
[4] Siehe "Gotha Portal zur Bildungsgeschichte der Frühen Neuzeit", verfügbar unter: https://www.uni-erfurt.de/forschungsbibliothek-gotha (13.02.2015).
Swantje Piotrowski