Flocel Sabaté (ed.): Ideology in the Middle Ages. Approaches from Southwestern Europe (= CARMEN. Monographs and Studies), Leeds: Arc Humanities Press 2019, xv + 447 S., ISBN 978-1-64189-260-5, EUR 129,00
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Die Sammlung von Aufsätzen sucht den Begriff der «Ideologie» für die mediävistische Geschichtswissenschaft nutzbar zu machen. Der Begriff erweist sich freilich als sperriges Instrument der Analyse. Die skeptischen Ausführungen von Gisela Naegle in ihrem Beitrag zu diesem Band bezeichnen die Schwierigkeiten, die vor allem darin begründet sind, dass das Wort selbst und seine Bedeutungen das Ergebnis ideologischer Auseinandersetzungen, Dogmatisierungen und historischer Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert sind. Den Problemen geht indes der Herausgeber in seinem Vorwort und in seiner Einleitung aus dem Wege, verweist vielmehr auf eine Definition aus einem Konversationslexikon und entfaltet ein grosses Panorama, man könnte auch sagen Potpourri (durchaus auch in seiner ursprünglichen Bedeutung), von zahlreichen Themen: politische Nutzung christlicher Vorstellungen, Konzepte der Erinnerung, Herstellung kollektiver Identitäten, gemeinsame Narrationen, Schaffung politischer Ordnungen, Politiktheorie, Rechtssetzungen.
Die Aufsätze des Bandes umfassen ebenfalls ein grosses Themenfeld. Strukturiert wird es durch vier Leitfragen: Welchen Beitrag leisten Ideologien zur Begründung der Macht? Wie unterstützen sie den Gebrauch der Macht? Wie machen sie Macht und ihr Einwirken auf den Alltag verständlich? Und schliesslich, wie verweisen Ideologien der Neuzeit auf das Mittelalter? Die insgesamt 21 Beiträge sind nach diesen Aspekten gegliedert.
Hauptuntersuchungsfeld ist die iberische Halbinsel, wobei Themen auch auf Italien, Frankreich und Deutschland ausgeweitet werden. Als gemeinsame Klammer der Beiträge meine ich die Verbindung von Religion und Macht zu erkennen, sowohl auf der Ebene der Kirche, des Königtums als auch der Stadtgemeinden. Auf dieser Basis enthält der Band Aufsätze, die wertvolle Ergebnisse bieten. Genannt seien hier nur (Vollständigkeit ist in der Knappheit der Rezension ausgeschlossen) die Deutungen der mittelalterlichen Historiographie und fiktionalen Literatur, die eine Vernünftigkeit der Geschichte darlegen, aus der die jeweils aktuellen politischen und religiösen Institutionen als notwendige Emanationen aus der Vergangenheit legitimiert werden (Samuele Sacchi, Ivan Pérez Marinas, André Luiz Bertoli, Sophie Salviati, Dominique Barthélemy), die Beiträge von kirchlichen Institutionen und Personen zur Begründung der Macht (Alfonso M. Hernandez Rodriguez, Chiara Melatini, Raquel Alonso Alvarez, Chiara Mancinelli), desweiteren devotionale, rechtliche und rituelle Praktiken (Doina Elena Cracuin, Luis Rojas Donat, Juan Coria Pocina, Joana Filipa Fonseca Antunes, Martine Charageat), Wirtschaftstätigkeit und ihre Rechtfertigung (Giacomo Todeschini), stadtgemeindliche Selbstbemächtigung einschließlich ihrer Berechtigungsstrategien (Gisela Naegle) und semantische Fixierungen in ihrer mittelalterlichen und modernen Interpretation (Adeline Rucquoi).
Abschliessend behandeln zwei Artikel die ideologische Vereinnahmung des Mittelalters im 19. und 20. Jahrhundert (Christian Amalvi, Antonio de Murcia Conesa).
So sehr die ertragreichen und zum großen Teil innovativen Forschungen der Einzelbeiträge einen Gewinn für die Geschichtswissenschaft darstellen, so sehr vermisst man eine gemeinsame Untersuchungsrichtung, die die disparaten Teile zusammenfügt. Die schwache Definition des zentralen Begriffs der Ideologie lässt Raum für mannigfach Interessantes, das in seiner Summe Reflexionen mittelalterlicher Menschen analysiert und sie als Voraussetzungen von mentalen Formungen von Herrschaftspraktiken darlegt.
Hans-Joachim Schmidt