Thomas Pegelow Kaplan / Jürgen Matthäus / Mark W. Hornburg (eds.): Beyond "Ordinary men". Christopher R. Browning and Holocaust Historiography, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, XII + 335 S., ISBN 978-3-506-79266-2, EUR 99,00
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Am 30. Oktober 2019 hielt der Jenaer Professor für Neuere und Neueste Geschichte Norbert Frei in Münster eine Laudatio auf den bekannten US-amerikanischen Holocaust-Forscher Christopher R. Browning, in der er den Dank der Geschichtswissenschaft für dessen Forschungsleistungen in den vergangenen Jahrzehnten überbrachte. Ganz besonders würdigte Frei in diesem Zusammenhang Brownings wegweisende wie vielzitierte Arbeit "Ordinary Men" [1], die 1992 erstmals auf Englisch erschienen ist und ihren Autor über Nacht berühmt gemacht hat. Ein Jahr später kam das Werk auch in deutscher Übersetzung auf den Markt; insgesamt ist es in mehr als ein Dutzend Sprachen übertragen worden. Mit seiner Studie hatte Browning offenbar einen Nerv getroffen: In der Folgezeit begann die zeithistorische Forschung, sich intensiver mit der Thematik "Polizei und Holocaust" zu befassen und analog zu den "Ordinary Men" die Täter des Holocaust nicht mehr als ideologisierte Nationalsozialisten, sondern verstärkt als "ganz normale Männer" zu begreifen, die ihre Opfer entmenschlichten und die sich an die von ihnen ausgeübten Gewaltverbrechen zunehmend gewöhnten.
Anlass für Freis Laudatio waren gleich drei Jubiläen, die in einem engen Zusammenhang mit dem hier besprochenen Sammelband von Thomas Pegelow Kaplan, Jürgen Matthäus und Mark W. Hornburg stehen: Neben dem 75. Geburtstag Christopher R. Brownings waren dies das 25-jährige Jubiläum der deutschen Veröffentlichung von "Ordinary Men" sowie das 20-jährige Bestehen des Münsteraner Geschichtsortes Villa ten Hompel, dessen Etablierung ohne die Pionierstudie kaum denkbar gewesen wäre, wie sich dem Beitrag von Thomas Köhler und Christoph Spieker entnehmen lässt. Diese Trias bot also mithin eine willkommene Gelegenheit, Brownings interpretatives Konzept von den "ganz normalen Männern" einer kritischen Revision zu unterziehen, schließlich stehe dieses heute auf einer Bekanntheitsstufe mit Hannah Arendts "Banalität des Bösen", wie Jürgen Matthäus und Thomas Pegelow Kaplan in ihrer Einleitung betonen. Peter Hayes nimmt es in einem eigenen Beitrag in den Blick. Der Titel des Bandes ist Programm: In insgesamt 19 Beiträgen vermessen deutsche, israelische, kanadische und US-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das weite Feld der Holocaust-Historiographie und reflektieren die Schlüsselerkenntnisse von Brownings Forschungen, wobei sie Grenzen und Blindstellen ebenso thematisieren wie die Entwicklung und Anwendung der Holocaust-Forschung im öffentlichen Raum.
Den Anfang macht dabei der Versuch, die Täterforschung neu zu überdenken, indem Doris L. Bergen etwa auf das Fehlen von Genderaspekten hinweist, weshalb wir kaum etwas über die Auswirkungen von geschlechterübergreifenden Beziehungen im Hinblick auf die Gewaltdynamiken während des Holocaust wissen. Auf einen stärkeren Einbezug von Genderaspekten bei der Erforschung des nationalsozialistischen Massenmordes in Europa während des Zweiten Weltkrieges drängen auch andere Beiträgerinnen bzw. Beiträger. So unterstreicht beispielsweise Laura E. Brade die aktive Rolle von Frauen im Rahmen der Rettungsaktionen von verfolgten Jüdinnen und Juden in den böhmischen Gebieten. Alan E. Steinweis und T. Fielder Valone plädieren wiederum dafür, insbesondere die Berichte jüdischer Überlebender künftig noch stärker als bedeutsame Quellen der Holocaust-Forschung wahrzunehmen, mithilfe derer sich eine wesentliche und bislang kaum berücksichtigte Binnenperspektive der Gewalt schärfer nachzeichnen lasse. Auf das gesellschaftliche Konstrukt von Männlichkeit und Gewalt weist der Beitrag von Edward B. Westermann, der den Zusammenhang von (sexueller) Gewalt, Alkohol, Polizei-Maskulinität und Holocaust hervorhebt. Nach Westermann habe der Alkoholkonsum als Gemeinschaftsaktivität eine entlastende Funktion besessen, der die eigene Männlichkeit unterstrich und den Verweigerer als schwächlich und weiblich deklassierte.
Einen wesentlichen Eckpfeiler des Sammelbandes markiert die historiographiegeschichtliche Auseinandersetzung der einzelnen Beiträge mit "Ordinary Men", etwa wenn Dan Michman sich rückblickend zu seinem fachlichen Dissens mit Browning äußert, den er auf die unterschiedlichen Bedeutungsbeimessungen von Bürokratie und Ideologie innerhalb der zeithistorischen Forschung zur Shoah zurückführt. Für Konrad H. Jarausch war es vor allem die Gesellschafts- und Sozialgeschichte der sogenannten Bielefelder Schule, und damit verbunden das Aufkommen der Alltagsgeschichtsschreibung in Deutschland, die Brownings Studie erst ermöglicht habe, indem nun auch das Handeln und Wirken "ganz normaler Männer" während des nationalsozialistischen Völkermordes an den europäischen Jüdinnen und Juden das Interesse der Forschung auf sich zogen. Die verschiedenen Entwicklungsstufen, in denen der Holocaust ins Zentrum der deutschen, aber auch der internationalen Erinnerungskultur gerückt sei, zeigt dagegen Thomas Pegelow Kaplan auf, der noch einmal deutlich macht, dass es der bundesrepublikanischen Gesellschaft nur langsam gelang, die jüdische Bevölkerung als primäres Opfer des NS-Regimes anzuerkennen. Einen sehr persönlich gehaltenen, ebenfalls historiographiegeschichtlich orientierten Beitrag hat Deborah E. Lipstadt beigesteuert, der spannende wie vielsagende Einblicke in die Argumentationsstrategie des fachlich renommierten Expertenteams gibt, das an der Seite der Autorin in dem von David Irving 1996 gegen Lipstadt angestrengten Prozess auftrat und dem neben Browning auch Richard Evans, Robert Jan van Pelt und Peter Longerich angehörten.
Mit der Fokussierung auf Brownings "Ordinary Men" bietet der Sammelband einen neuen Blickwinkel auf die Historiographiegeschichte des Holocaust, der zahlreiche Leerstellen benennt, diese aber nicht zu beseitigen vermag. Nichtsdestotrotz lädt der Band dazu ein, noch einmal über die Ausweitung und den Wandel innerhalb der Täterforschung, weg von der engeren NS-Führungsriege und dem Typus des "Schreibtischtäters" hin zu "ganz normalen Männern", sowie über das Bewusstsein und die Sensibilisierung für den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden nachzudenken. Dies ist vor allem in Zeiten, in denen der Antisemitismus grenzüberschreitend wieder an Akzeptanz gewinnt (man denke nur an die rassistischen und antisemitischen Chatgruppen deutscher Polizistinnen und Polizisten!) und die Geschichte des Nationalsozialismus und der faschistischen Gewaltverbrechen zunehmend auch von politischen Akteurinnen und Akteuren geleugnet, verharmlost oder verklärt wird, von enormer gesellschaftlicher Relevanz.
Anmerkung:
[1] Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992; Übersetzung von Jürgen Peter Krause: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek 1993.
Martin Göllnitz