Frank Göse: Friedrich Wilhelm I. Die vielen Gesichter des Soldatenkönigs, Darmstadt: wbg Theiss 2020, 604 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-4106-8, EUR 38,00
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Es ist ein beliebter Irrtum zu meinen, die ältere Historiographie zur preußischen Geschichte hätte einen Schwerpunkt in der Biographie von Königen und Generälen, in der Betrachtung von "großen Männern", in der Schilderung von Haupt- und Staatsaktionen besessen. Bis vor kurzem lagen nicht einmal für die Könige zureichende Bearbeitungen vor, und Lücken gibt es immer noch, schmerzlich zumal dann, wenn auf ein gewisses Niveau Wert gelegt wird.
Zum zweiten preußischen König, über dessen gängiges Signet als "Soldatenkönig" sehr gestritten werden könnte, gab es - außer arg Populärem - bislang nur sehr Altes und den Torso aus der Feder von Carl Hinrichs, erarbeitet in den 1930er Jahren und gekennzeichnet von mancherlei erst neuerdings erkennbaren Prägungen in Ästhetik und aus der politischen Welt, in der er arbeitete [1], freilich mit erstaunlich modernen Perspektiven einer politischen Kulturgeschichte. Die Deutung und Bewertung Friedrich Wilhelms I. unterlag massiven Schwankungen. [2] Zunächst wurde er drastisch unterschätzt, ja exotisiert, bis er aus nationalökonomisch-"sozialwissenschaftlicher Perspektive" um 1900 zur konstitutiven Persönlichkeit des Staatsbildungsprozesses vom preußischen Typus stilisiert und damit aus alteuropäischen Verwurzelungen allzu sehr herausgelöst wurde.
Der Potsdamer Historiker Frank Göse hat nun eine moderne, nicht eigentlich "kulturgeschichtliche" Neuinterpretation dieser schwierigen Persönlichkeit publiziert. Der Schwerpunkt dieser ersten umfassenden Darstellung zum zweiten König liegt vielmehr in einem multimethodischen Zugriff, der Einsichten der allgemeinen Frühneuzeit-Forschung am speziellen Objekt zur Anwendung bringt. Darin beruht die Stärke dieses stattlichen Buches.
Göse gliedert seinen Stoff nicht chronologisch, sondern primär systematisch, was zugleich Stärke und Risiko ausmacht. Denn die wichtige Erkenntnis, dass der König sich "im Verlauf seiner 27 Jahre währenden Regierung" weiterentwickelt (15) habe, also nicht immer derselbe geblieben sei, ist so nicht leicht zur Geltung zu bringen. Denn es geht dem Verfasser primär darum, "genauer auszuloten, über welchen Spielraum der König in den verschiedenen Politikbereichen" verfügte, um so "in den einzelnen Kapiteln ausgewählte Handlungsbereiche vorzuführen" (13f.).
Die Kronprinzen- und Jugendzeit hat vor jetzt achtzig Jahren Carl Hinrichs mit Meisterschaft geschildert, auf der Basis wahrhaft europaweiter Archivstudien. Dem adelsgeschichtlichen Forschungsinteresse Göses entsprechend, wird in der Zeit seit dem Regierungsantritt 1713 zunächst das Verhältnis Friedrich Wilhelms zur "politisch-höfischen Führungsgruppe" analysiert, ausgehend von der Erkenntnis der jüngeren Forschung, dass der Hof Friedrich Wilhelms zwar reduziert, mitnichten aber beseitigt wurde. Seine Strategie hat der König an vertraulichem Ort selbst geschildert. [3] Unter ihm nahm der Anteil von Offizieren in Hofpositionen weiter zu, die "Kommunikationsformen" wandelten sich (70), aber auch ein Friedrich Wilhelm konnte auf den Hof als politisch-kulturellen Ort nie verzichten. Das Jahr 1713 verliert schon in diesem Kapitel vieles von seiner zäsurhaften Qualität.
Sodann schildert Göse "Herrschaftsvorstellungen und Regierungspraxis", gekennzeichnet durch die autokratische Form der Regierung aus dem königlichen Arbeitsgemach, dem "Kabinett" und seinen Sekretären. Die wohlerhaltenen Akten aus diesen Jahrzehnten beweisen, dass der Monarch für Untertanen und ihre Suppliken gut erreichbar war; es war bekannt, wo und wie Gelegenheit bestand, eine mehr oder weniger unzeremoniöse Audienz zu bekommen. Für den König war dies ein Mittel, Kommunikations- und Informationskanäle offenzuhalten, die kein Minister kontrollierte. Besonders interessant sind Göses Ausführungen zur "Wahrnehmung des Königs durch die Untertanen" (115-125), soweit diesem Thema schon für die analphabetisierten Gruppen und Schichten nachgegangen werden kann.
Natürlich wird sodann die "Finanz-, Wirtschafts- und Peuplierungspolitik" geschildert, die Rolle von "Wissenschaft und Kunst", später auch der Religion in der Herrschaftspraxis, um sodann - zentrales Forschungsgebiet des Verfassers - das Verhältnis von König und Landständen, zumal den Adel zu behandeln (170-203), und das mit dem Ergebnis, dass von einem prinzipiellen Antagonismus von Monarch und Nobilität nicht die Rede sein könne (183). Konkurrierende Loyalitäten, nicht platte Unterwerfung bestimmten das Verhältnis, und das auch in der altpreußischen Armee (239).
Überraschend neue Aspekte bringt dieses Werk gerade auf den Feldern der Außen- und der Reichspolitik, und zwar in engem Konnex mit der Gestalt des preußischen Hofes jener Jahre. Friedrich Wilhelm I. ließ auswärtige Mächte wissen, dass er an seinem Hof nur "Residenten, also Diplomaten mit dem niedrigsten Rang" zu sehen wünschte (316), was zeigt, dass Erklärungen ganz aus der Logik maximierter Statusdemonstration von Magnifizenz und visibilisierter Majestas für diese Epoche etwas revidiert werden müssen. Das Verhältnis zum Kaiser war durchaus nicht primär von Loyalität und Vasallität bestimmt (471), sondern folgte eigenen Interessen.
Der Verfasser nutzt wiederholt komparatistische Wege, um die historische Stellung Friedrich Wilhelms I. zu bestimmen. Gerade die Herrschaftspraxis dieses Monarchen zeigt auffallende Parallelen zu München und Dresden (473) und vielleicht sogar zu Wien. [4] Damit ist auch gesagt, dass Göse dem neueren Forschungstrend folgt, das "Preußische" zu entessentialisieren, es alteuropäischer, zeittypisch-"normaler" erscheinen zu lassen [5], als dies lange Zeit üblich war. Göse ist ja einer der besten Kenner der brandenburg-preußischen Quellenüberlieferung; sein Archivalienverzeichnis (559f.) weist dies einmal mehr aus; und es bleibt zu hoffen, dass diese Erkenntnis bei thematischen Nachfolgern auf diesem Themenfeld nicht wieder verloren geht. Göses Werk, ganz unprätentiös und quellengestützt-solide, setzt Maßstäbe für alle, die da noch kommen mögen.
Anmerkungen:
[1] Alles Weitere bei Wolfgang Neugebauer: Wissenschaft und politische Konjunktur bis Carl Hinrichs. Die früheren Jahre, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge 21 (2011), 141-190, bes. 159-183, zur Kulturgeschichte 172-178.
[2] Klassisch: Stephan Skalweit: Friedrich Wilhelm I. und die preußische Historie, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 6 (1957), 107-131, bes. 118-124; die von Gustav Schmoller um 1900 geplante Biographie Friedrich Wilhelms I. ist nicht erschienen.
[3] Vgl. Göse, 47 mit der Quellenstelle von 1722 bei Georg Küntzel / Martin Hass (Hgg.): Die politischen Testamente der Hohenzollern nebst ergänzenden Aktenstücken, Bd. 2, 2. Aufl., Leipzig / Berlin 1919, 96f.
[4] Vgl. mit weiteren Nachweisen Wolfgang Neugebauer: Monarchisches Kabinett und Geheimer Rat. Vergleichende Betrachtungen zur frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichte in Österreich, Kursachsen und Preußen, in: Der Staat 33 (1994), 511-535.
[5] Grundsätzlich Heinz Duchhardt: Barock und Aufklärung. 4., neubearb. Aufl. des Bandes "Das Zeitalter des Absolutismus", München 2007, 186.
Wolfgang Neugebauer