Bernd Greiner: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums, München: C.H.Beck 2020, 480 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-75566-8, EUR 28,00
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Bernd Greiner, ausgewiesener Amerika-Kenner, beweist Mut: Den kaum noch zu zählenden Biografien über Henry Kissinger fügt er eine weitere hinzu. Und er zeigt sich als exzellenter Kenner der amerikanischen Politik. Zudem schreibt er flott, so dass die Lektüre nie langweilig wird. Greiner verortet Kissinger als intellektuellen Wächter des amerikanischen Imperiums. Dabei wird Kissinger zum Idealtypus der machtbewussten außenpolitischen Ostküstenelite. Das ist stimmig; Greiner schildert eine Aufsteiger-Saga im Zeichen des "American Dream". Nicht neu, aber mit Schwung und anekdotenreich zeigt er, wie der junge jüdische Flüchtling aus Fürth sich dank Chuzpe und Machtinstinkt zum dominanten Gestalter der US-Außenpolitik entwickelte.
Kissinger als prinzipienloser Karrierist? Diese These ist trifft zu, ist aber bekannt. Dabei war der Weg steinig: Vom gescheiterten Berater in der Regierung Kennedy zum Redenschreiber für Nelson Rockefeller bis zum Nationalen Sicherheitsberater und schließlich Außenminister der Regierungen Nixon und Ford mussten viele Klippen umschifft werden.
Die drei Kapitelüberschriften "Lehrling" - "Angestellter" - "Pensionär" erscheinen allerdings etwas dürftig. Eine bessere Übersicht ergibt sich, wenn man Greiners Buch zuerst als Persönlichkeitsstudie versteht. Kissinger wird als intrigant und opportunistischer Egomane beschrieben und das erinnert ein wenig an die publizistische "Hinrichtung" Kissingers von Christopher Hitchens. [1] Auch Greiner konzentriert sich auf die drastischen Äußerungen Kissingers und Nixons in geheimen Tonbandaufzeichnungen, wo es von "Hurensöhnen", "Arschlöchern" und so weiter nur so wimmelt. (144 f.) Willy Brandt sei "nicht der Hellste, dazu dumm, faul und ein Trinker, ein versoffener Trottel und Informant des Kremls". (229) Kissinger und Nixon erscheinen so als paranoide, kriegslüsterne und verantwortungslose Gesellen, die sich im Übrigen gegenseitig in einem "Gezerre voller Misstrauen, Eifersucht und Neid, Eitelkeit, üble[r] Nachrede und Opportunismus" begegnen. (235)
Das ist alles aufschlussreich, aber welche Abgründe täten sich bei fast allen Politikern auf, würden ihre intimsten Gedanken nicht nur öffentlich ausgebreitet, sondern zum alleinigen Maßstab ihres Handelns erhoben? Wer also allein diabolische Wünsche als Maßstab politischen Handelns heranzieht, kann und will weder objektiv noch abgewogen analysieren. Greiners Verriss erinnert an Tim Weiners Buch, das interessanterweise im Literaturverzeichnis nicht auftaucht. [2] Doch es zeigt ähnliche Stickmuster: Korruption, Lüge, Paranoia und Machtmissbrauch.
Und wie steht es um Kissingers außenpolitische und politikwissenschaftliche Vorstellungen? Wer diente ihm als Vorbild? Greiner nennt Fritz Krämer und den flamboyanten Harvard-Professor William Y. Elliott, aber übergeht geflissentlich die herausragende Bedeutung von Hans J. Morgenthau. Morgenthau, jüdischer Flüchtling aus Coburg, wurde in den USA der bedeutendste intellektuelle Repräsentant des außenpolitischen Realismus. Mit seinem Buch "Politics Among Nations" [3] hat Morgenthau wie kein zweiter Theorie und Praxis der amerikanischen Außenpolitik bis in die 1970er Jahre nachhaltig beeinflusst, auch und gerade Henry Kissinger. Doch ohne Morgenthaus zentralen Einfluss auf Kissinger - von diesem selbst mehrfach eingeräumt - bleibt dessen außenpolitisches Gedankengebäude blass und dürftig.
Morgenthau wie auch der zweite große Realist seiner Zeit, George F. Kennan, kritisierten den idealistischen Missionsgedanken der USA und plädierten - wie Kissinger - für nüchterne Interessen- und Machtbalance-Politik. Die "Nixon-Doktrin" mit dem Ziel einer pentagonalen Multipolarität, von Kissinger intellektuell formuliert, fußt auf den realistischen Prämissen Morgenthaus. Zu den Widersprüchlichkeiten der realen Welt und des außenpolitischen Realismus gehört, dass Kennan und Morgenthau die von Kissinger mitverantwortete Vietnam-Politik der Regierung Nixon vehement kritisierten. Aber solche Zwischentöne lässt Greiner leider unbeachtet.
Natürlich war die Chile-Politik der Regierung Nixon eine unangemessene Einmischung! Aber in der Wahrnehmung von Kissinger war Chiles Präsident Allende, nicht völlig unbegründet, ein Bewunderer der kommunistischen Diktatur Kubas und ein entschiedener Gegner der USA. Im Sinne der "Domino-Theorie" fürchteten Nixon und Kissinger, dass nach Kuba auch Chile kommunistisch werden könnte.
Das Dilemma Lateinamerikas war ein Mangel an bürgerlichen Perspektiven: Zu oft gab es nur die Wahl zwischen autoritär-rechten oder links-sozialistischen Regimen. Hier handelten Nixon und Kissinger realpolitisch in der Tradition von Theodore Roosevelt: In der amerikanischen Einflusssphäre dient es dem US-Interesse, wenn rechte amerikafreundliche anstatt linker amerika-feindlicher Diktaturen regieren. Das ist nicht schön, aber entsprach realpolitischer Maxime in der Dialektik der Ost-West-Konfrontation.
Greiner blendet auch den machtpolitischen und ideologischen Gegensatz zwischen den USA und der UdSSR und damit die konfrontative Dialektik völlig aus. Das Ringen um Entspannung der Regierung Nixon-Kissinger bleibt folglich in der Studie auf der Strecke.
Auch unterschlägt Greiner, dass gerade im Kalten Krieg neben Menschenrechten und Entspannung auch Macht, Prestige, Interesse und Einfluss eine zentrale Rolle spielten.
Mit Blick auf die Kambodscha-, Laos- und Vietnam-Politik von Nixon und Kissinger wird ausgeblendet, dass Nixon und Kissinger diesen Krieg nicht verursacht hatten; vielmehr suchten sie ihn zu beenden, weil er sich als falsch und strategisch sinnlos erwiesen hatte. Nixon wollte jedoch nicht zum ersten Präsidenten werden, der einen Krieg verloren geben musste. Der Preis, den die Bevölkerung in Indochina bezahlte, war horrend. Dieser Krieg hat deshalb Amerikas Ansehen schwer geschadet. Kritik ist mehr als berechtigt. Aber keine wissenschaftliche Studie sollte sich allein auf Verurteilung konzentrieren, sondern auch zu erklären und zu verstehen versuchen.
Souverän negiert werden Kissingers mannigfaltige Bemühungen für regionale und internationale Entspannung. So fanatisch antikommunistisch Nixon und Kissinger an den Peripherien der Weltpolitik agierten, so strategisch weitsichtig bemühten sie sich im Sinne der "Nixon-Doktrin" (die nie erwähnt wird) um Ausgleich mit den beiden kommunistischen Weltmächten: Nirgendwo fallen außenpolitischer Weitblick, diplomatische Dramatik, geostrategische Klugheit und nüchternes Interessenkalkül so geglückt zusammen wie in der Chinapolitik der Regierung Nixon. Sie gilt als wegweisend. Die Neuordnung der Welt im Dreieck USA - Sowjetunion - China war von epochaler Bedeutung und ein historischer Triumph von Nixon und Kissinger.
Greiners kursorische Erwähnung von Kissingers Politik gegenüber der Sowjetunion überrascht letztlich kaum mehr: Greiner minimalisiert dessen entspannungspolitische Leistungen wie die Durchbrüche in der Rüstungskontrolle und die Verdienste um Menschenrechte. So erwirkten Kissinger und Nixon, dass der Kreml 1972 die Ausreise von 30.000 Sowjetbürgern nach Israel und in die USA genehmigte - ein Ergebnis von harter Geheimdiplomatie und nicht von moralisierendem Getöse in der Öffentlichkeit; letzteres hätte den Kreml nur verstört.
Auch Kissingers Leistungen im Nahen Osten sind für Greiner kaum erwähnenswert. Dabei war Kissingers Schritt-für-Schritt-Diplomatie nach dem Yom-Kippur-Krieg eine diplomatische Glanzleistung; sie half, die arabisch-israelischen Gegensätze zu überwinden. Zugleich lockte er Ägypten aus dem sowjetischen Einflussbereich und gewann einen neuen Verbündeten für die USA.
Kissingers Angola-Politik wird lediglich sporadisch erwähnt. Greiner übergeht, dass sich dort die Marxisten mit massiver Militärhilfe aus Kuba und der Sowjetunion durchsetzen konnten, weil Kissinger durch den Kongress die Hände gebunden wurden. Da im Fahrwasser Angolas in weiteren Teilen Afrikas Gewalt und Aufruhr drohten, entwickelte Kissinger schließlich eine Afrika-Politik mit Betonung der Menschenrechte. Es verwundert nicht, dass Greiner Kissingers Druck auf die Apartheid-Regime in Rhodesien und Südafrika übergeht.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Ambivalenz von Kissingers Außenpolitik, seine schillernde Persönlichkeit und nicht zuletzt seine Leistungen kommen in diesem Buch zu kurz. So kann Greiners Fazit nur verwundern: "Henry Kissinger, ein Scheinriese, der immer kleiner wird, je näher man ihm kommt. [...] Zugleich verstand er es, sich zur Marke in Übergröße zu machen. Als Werbetexter und Impresario seiner selbst ist Kissinger seit jeher eine Klasse für sich". Das Geheimnis von Kissingers Selbstvermarktung liege darin, dass er in der Lage war, "jede Banalität als höhere Einsicht zu verkaufen". (388) Reicht das aus? Sieht Greiner seinen Protagonisten "at the other end of the telescope", um Elvis Costello zu zitieren? Oder hat nicht vielmehr Bernd Greiner sein historisches Fernrohr auf Kissinger verkehrt herum gehalten?
Kissingers historische Helden wie Talleyrand und Metternich haben als außergewöhnliche Diplomaten ihrer Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Es würde nicht erstaunen, wenn Historiker der Zukunft Henry Kissinger als herausragenden Diplomaten seiner Zeit bewerten werden. Wie nur wenige hat er die Rolle der USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Staatsmann geprägt und zugleich als Historiker interpretiert.
Anmerkungen:
[1] Christopher Hitchens: Die Akte Kissinger, Stuttgart u. a. 2001.
[2] Tim Weiner: Ein Mann gegen die Welt. Aufstieg und Fall des Richard Nixon, Frankfurt/M. 2016.
[3] Hans J. Morgenthau: Politics Among Nations. The Struggle for Power and Peace, New York 1948
Christian Hacke