Sebastian Barsch / Bettina Degner / Christoph Kühberger u.a. (Hgg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, 527 S., E-BOOK, ISBN 978-3-7344-0878-6, EUR 39,90
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Diversitätssensible Zugänge halten in der geschichtsdidaktischen Forschungslandschaft zunehmend, wenn auch vereinzelt und noch recht unverbunden, Einzug. Nach dem motivierten Vorhaben und der längeren Ankündigung dieses Handbuchs, das sich mit Diversität im Kontext einer inklusiven Geschichtsdidaktik beschäftigt, ist es umso erfreulicher, dass es Sebastian Barsch, Bettina Degner, Christoph Kühberger und Martin Lücke nun gelungen ist, Beiträge und Sichtweisen zu bündeln und den Band herauszugeben. Das Handbuch markiert in der Geschichtsdidaktik einen relevanten Vorstoß dazu, die Bedeutung von Diversität etwas systematischer in die fachdidaktische Diskussion einzubringen. Es nimmt gesellschaftliche Realität, die sich auch in Lerngruppen wiederfindet, in ihrer Vielschichtigkeit aus einer machtkritischen Perspektive in den Blick. Die Herausgeber*innen betonen die unausweichliche Unvollständigkeit der vorgelegten Überlegungen für die Forschung sowie die Unterrichtspraxis und fordern zur Weiterentwicklung ihres als dynamisch zu verstehenden Handbuchs auf (15). Dem kann die Wissenschaftsgemeinschaft nun folgen.
So differenziert wie die einzelnen Beiträge des Handbuchs ist auch seine Einteilung in "Theorie", "Geschichtsdidaktische Grundlagenbegriffe" und "Pragmatik des historischen Lernens". Der Band behandelt verschiedene Inhalte der geschichtsdidaktischen Forschung in ihrer Breite. So widmen sich beispielsweise Lale Yildirim und Martin Lücke Überlegungen zu "Race als Kategorie historischen Denkens" (146-158), Sebastian Barsch und Christoph Kühberger untersuchen "Kompetenzorientierung im diversitätssensiblen Geschichtsunterricht" (202-210) und Andreas Körber diskutiert eine "Inklusive Geschichtskultur" (250-258). Indem die pragmatisch orientierten Überlegungen den größten Teil der Veröffentlichung bilden, wird der Band seinem Anspruch, konkrete Vorschläge für die drei Phasen in der Lehrer*innenbildung zu geben (19), gerecht. Dennoch vernachlässigt er die theoriegeleitete Diskussion nicht, welche die Basis für pragmatische Überlegungen darstellt. Einige pragmatisch bezogene Beiträge vertiefen vorherige theoretische Betrachtungen; so greifen beispielsweise Sebastian Barsch und Christoph Kühberger "Ramps" als geschichtsdidaktische Zugänge konkret und praxisorientiert (507-515) mit Blick auf ihren vorherigen Theoriebeitrag auf (297-310). "Ramps" lassen sich als Zugangsmöglichkeiten zu Lerninhalten verstehen. Barrieren lassen sich dadurch überwinden (301-302). Bettina Degner bezieht sich bei ihren Überlegungen zur Planung inklusiven Geschichtsunterrichts (323-337) auf Beträge von Saskia Handro (93-116) sowie Matthias Sieberkrob und Martin Lücke (424-439). Der von der Disziplin bereits in der Vergangenheit sooft angezeigte Mangel an (systematischen) empirischen Studien zur historischen Sinnbildung von Schüler*innen (insbesondere mit diversitätssensibler Perspektive) wird im Handbuch erneut betont (beispielsweise 16, 190-191, 206, 246-287). Da bisher nur spärliche empirische Ergebnisse vorhanden sind (198), verzichtet das Handbuch auf einen Teil zur Empirie. Mehr der wünschenswerten Erkenntnisse aus neuen (diversitätssensiblen) empirischen Forschungsarbeiten und deren Rückkopplung an theoretische und pragmatische Überlegungen wären im vorliegenden Band erfreulich und sicherlich gewinnbringend gewesen.
Die Herausgeber*innen legen dem gesamten Band ein weites Verständnis von Inklusion (9) zu Grunde, an dem sich alle Beiträge kohärent orientieren. Auch soll die Ausrichtung am lernenden Subjekt (9) eine Perspektive des Handbuchs darstellen. Ein Ziel der Veröffentlichung ist es, dazu beizutragen, Diversitätskategorien, welche die Differenzen der Schüler*innen auf Subjektebenen werten, zunehmend zu überwinden. Besprochen werden auch Auswirkungen sozialer Kategorien (wie beispielsweise race, class, gender oder ability) auf Geschichten, die erzählt werden (11). Zudem nimmt das Handbuch Überlegungen auf curricularer Ebene in den Blick (21). Konsequent leiten die Herausgeber*innen aus diesen Zugängen ein Ziel, "sich alte fachdidaktische Fragen neu zu stellen und unter dem veränderten inklusiven Paradigma zu denken" (11) ab; dieser Absicht tragen die Autor*innen des Bands Rechnung. Die einzelnen Beiträge beinhalten erste Erkenntnisgewinne, die sich nun vertiefen und weiterdenken lassen. Der rote Faden des Handbuchs ist, nicht zuletzt durch dessen übergeordnete Intentionen und begrifflichen Grundlagen, die dreiteilige Gliederung und zahlreiche Querverweise zu vielen Abhandlungen oder einzelnen Überlegungen innerhalb des Bands, gut nachvollziehbar.
Konsequent gehen viele Beiträge auf die Bedeutung ein, historische Lernprozesse von Schüler*innen an Differenzlinien zu ermöglichen (unter anderem 32, 48, 153-155, 172-176, 183-184, 315-319). Subjektorientierung sowie die Verschränkung mit Prozessen eigensinniger Aneignung von Vergangenheit erlauben es, "die Zugänge zur Vergangenheit, aber auch ihre möglichen Interpretationen zu pluralisieren [...]" (33). Herausgearbeitet werden die Relevanz intersektionaler Wechselwirkungen und die Verteilung von Macht innerhalb der Gesellschaft, die stets kritisch mitzudenken sind (54-66, 441). Es gelingt allen Beiträgen, diese machtkritische Perspektive einzunehmen und stets aus dieser heraus zu argumentieren. Die nicht ganz neuen, aber erneuerten und wiederholten Vorschläge könnten die weitere geschichtsdidaktische Debatte um diversitätssensible Zugänge bereichern. Besonders die Bedeutung der Kategorie Klasse im Kontext geschichtsdidaktischer Überlegungen (117-133 und 135-143) erscheint noch ausgesprochen desiderabel. Es ist erfreulich, dass das Handbuch diese Forschungslücke herausarbeitet und betont.
Mit Blick auf kommunikative Vielfalt diskutiert das Handbuch fachdidaktische Fragen, wie an zahlreichen Stellen beispielsweise die Bedeutung von Sprache und Sprachsensibilität in Bezug auf die der Geschichtsdidaktik zugrundeliegenden narrativistischen Geschichtstheorie erneut und setzt damit Impulse, auch konsensual diskutierte Denkfiguren mit diversitätssensiblen Perspektiven in neue Debatten aufzunehmen (223-232, 271, 302, 368-269, 461, 509 ausführlich 93-116, 213-222, 375-384, 424-439, 494-506). Neben bereits etablierten geschichtsdidaktischen Begriffen und Zugängen orientieren sich einige Autor*innen an aktuellen, noch weiter zu diskutierenden theoretischen Vorschlägen beispielsweise der eigensinnigen Aneignung [1] im Kontext historischen Lernens (unter anderem 32, 151, 218) oder auch Betrachtungen einer phänomenologisch orientierten geschichtsdidaktischen Konzeption [2] (unter anderem 79, 89, 218, 244). Sie binden diese in ihre Erörterungen, mit einem Herantasten, sie weiterzuentwickeln und deren Bedeutung für weitere Überlegungen zu klären, ein. Jenseits von Begriffen, die in der Disziplin bereits begründet und ausdifferenziert sind, werden auch Anregungen, die erst jüngst Einzug in fachdidaktische Debatten halten, wie beispielsweise Ambiguitätstoleranz, besprochen (342). Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass neue Konzepte in die Diskussion aufgenommen werden. Jedoch müsste sich die Forschung zunächst grundlegend und systematisch mit solchen neuen Begriffen auseinandersetzen und sie disziplinspezifisch klären, um dann zu überlegen, welche Rolle sie in der Theoriebildung spielen könnten.
Die große Stärke des Handbuchs, wie auch Chance für die Disziplin, besteht im konsequenten Aufzeigen zahlreicher Forschungsdesiderata (so beispielsweise im empirischen Bereich), die in den einzelnen Beiträgen andiskutiert werden oder als Ausblick offenbleiben. Aufgedeckt und gebündelt zeigen sich dadurch bemerkenswert viele Lücken in der geschichtsdidaktischen Forschung; die einzelnen Auseinandersetzungen leisten einen wichtigen Beitrag, diese Leerstellen zum einen differenziert aufzuzeigen und zum anderen zu füllen. Weitere Debatten und nicht zuletzt die Verzahnung mit aussagekräftigen empirischen Forschungsergebnissen spielen in Zukunft sicherlich eine zentrale Rolle.
Das Handbuch wird, so ist zu hoffen, irritieren, Denkanstöße geben, Diskussionen auslösen und empirische Untersuchungen anregen - auch, wie intendiert, international (19) - um durch "inklusives Geschichtslernen zur Anerkennung und Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt und zu einem liberalen und demokratischen Miteinander beizutragen" (11). So lässt sich abschließend und einschätzend zu diesem Band resümieren: Was lange währt, wird endlich gut, auch wenn es noch ein Anfang ist.
Anmerkungen:
[1] Oliver Musenberg: Perspektiven 'eigensinniger Aneignung' von Geschichte. Impulse für die Theoriebildung inklusiver Geschichtsdidaktik, in: Geschichtsunterricht ohne Verlierer!?, hgg. von Bettina Alavi / Martin Lücke, Schwalbach / Ts. 2016, 19-33; Juliane Brauer / Martin Lücke: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, hgg. von dens., Göttingen 2013, 11-26.
[2] Bärbel Völkel: Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte, Schwalbach / Ts. 2017.
Franziska Rein