Christian Heuer / Manfred Seidenfuß (Hgg.): Problemorientierung revisited. Zur Reflexion einer geschichtsdidaktischen Wissensordnung (= Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 12), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2020, 151 S., ISBN 978-3-643-14752-3, EUR 29,90
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Meike Hensel-Grobe: Problemorientierung im Geschichtsunterricht (= Methoden Historischen Lernens), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2020, 183 S., ISBN 978-3-7344-1089-5, EUR 14,90
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Siegfried Hermle / Claudia Lepp / Harry Oelke (Hgg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006
Florian Bock / Christian Handschuh / Andreas Henkelmann (Hgg.): Kompetenzorientierte Kirchengeschichte. Hochschuldidaktische Perspektiven "nach Bologna", Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015
Lucia Scherzberg (Hg.): Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdiszipinären Vergleich. In Zusammenarbeit mit Werner Müller, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005
Meike Hensel-Grobe / Heidrun Ochs (Hgg.): Geschichtsdidaktik Update. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungsansätze der Early Career Researchers, Göttingen: V&R unipress 2022
Meike Hensel-Grobe: Das St.-Nikolaus-Hospital zu Kues. Studien zur Stiftung des Cusanus und seiner Familie (15.-17. Jahrhundert), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007
Wie wohl kaum eine andere geschichtsdidaktische Wissensordnung hat in den letzten Jahrzehnten das Konzept der Problemorientierung historischen Lernens und der problemorientierte Geschichtsunterricht die Unterrichtspraxis geprägt. Problemorientierung ist nicht zuletzt in Ausbildungskontexten in den letzten Jahrzehnten vielfach zum Standard guten Geschichtsunterrichts geworden. In der geschichtsdidaktischen Diskussion spielte sie, jenseits von Handbuchartikeln, spätestens seit der Jahrtausendwende dagegen kaum noch eine Rolle. Umso verdienstvoller ist es, dass das Thema jetzt von zwei Publikationen nahezu gleichzeitig wieder aufgegriffen wird. Sie nähern sich der Problemorientierung aus verschiedenen Perspektiven.
Die Beiträge des Sammelbandes von Christian Heuer und Manfred Seidenfuß gehen auf eine Ringvorlesung an der PH Heidelberg zurück. Entgegen der Erwartungen, die der Titel weckt, widmet sich nur die Einleitung der Herausgeber und ein Beitrag von Michele Barricelli der Reflexion des Problemorientierten Geschichtsunterrichts (POGU) vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen der Geschichtsdidaktik. Daneben zeigt Manfred Seidenfuß, wie viel Entwicklung und Aufstieg des POGU den wissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskursen der späten 1970er Jahren verdankt. Dieter Burkard beleuchtet anekdotisch diese Entstehung und Verbreitung aus der Zeitzeugenperspektive. Zwei weitere Beiträge diskutieren die Praxis. Mario Resch versucht, das Konzept für Aufgabenformate fruchtbar zu machen und Ulrike Falkner und Markus Popp zeigen Problemorientierung in der gymnasialen Lehrerausbildung. Wolfgang Hasbergs etwas aus der Reihe fallender Beitrag thematisiert dagegen weit ausufernd das "Historische Erzählen als Problem" und geht nur am Rande auf den POGU ein.
Naturgemäß viel konziser konzipiert ist Hensel-Grobes Publikation. Mit zahlreichen Beispielen und Konkretisierungen richtet sie sich in erster Linie an Praktikerinnen und Praktiker. So wird "Problemorientierung" als "Erkenntnis- und Strukturierungsverfahren" für Geschichtsunterricht konturiert, ausführlich auf mögliche historische "Probleme" eingegangen und methodische Aspekte der Unterrichtsplanung und -gestaltung behandelt.
Beide Publikationen gehen von einer ambivalenten Bewertung des POGU aus. Sie würdigen ihn einerseits als "Erfolgsprodukt geschichtsdidaktischer Theoriebildung", dem es gelungen sei, die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken. (Heuer/Seidenfuß, 19) Andererseits beklagt Hensel-Grobe mit Blick auf die Praxis eine "Einengung" des "vielfältigen Ansatzes" in ein starres Einzelstundenschema, "das ein eigenständiges historisches Denken" nur begrenzt fördere. (12) Heuer und Seidenfuß teilen in ihrer instruktiven Einleitung diese Diagnose, formulieren aber eine viel grundsätzlichere Kritik: Hinter der Problemorientierung stecke ein selbst zutiefst zeitverhaftetes "Modell linearer Ordnungsvorstellungen, das Fortschritt, Kontinuität und Zeitlichkeit" prinzipiell berechenbar" mache, (10) Orientierung und Sicherheit verspreche und versuche "Verunsicherungen durch historisches Lernen [...] aufzulösen." (8) Für sie dagegen "löst historisches Lernen keine Probleme, sondern generiert immer wieder neue [...] die sich jedoch nicht lösen lassen." (14) In unserer "unsicheren" Zeit lägen die Chancen der Problemorientierung "in erster Linie in der Verunsicherung, der Irritation, in der Hinterfragung von Orientierungen, in der Aushöhlung der Identitäten." (16) Nimmt man die Kritik auf, hätte das tiefgreifende Konsequenzen für die Gestaltung des POGU, die von Heuer und Seidenfuß leider nicht konkretisiert werden.
Hensel-Grobe enthält sich grundsätzlicher Überlegungen. Obwohl sie Problemorientierung eingangs als "Basiskategorie von Geschichtsunterricht" (7) definiert, scheint sie ihr theoretisch nicht weiter begründenswert. Es muss genügen, dass Problemorientierung in ihren Augen die "Konstruktion von Lernprozessen" und den "Gegenwartsbezug" ermöglicht, ein "Strukturierungsverfahren" bereitstellt, "fachliche Erkenntnisverfahren" integriert, und das "aktive Lernen" wie auch "historical literacy" fördert. (22f.). Recht schlicht definiert sie als Ziel "des Lehrgangs Geschichte in der Schulzeit [...] historische Problemstellungen kompetent zu lösen". (24)
Doch was sind "historische Problemstellungen", wie wird Geschichte zum "Problem"? Unverkennbar sind die Schwierigkeiten in täglicher Praxis wie fachdidaktischer Theorie, die Struktur eines lerntauglich konturierten "Problems" so herauszuarbeiten, dass ein fachspezifischer Mehrwert gegenüber einem irgendwie schülerorientierten, lebensweltnahen Fachunterricht erkennbar wird.
Das zeigen auch die diesbezüglichen umfangreichen Ausführungen Hensel-Grobes. Sie legt, angelehnt an frühere Konzeptualisierungen [1], eine umfassende Typologie von Problemen vor, die sie jeweils mit zahlreichen hilfreichen Erläuterungen und Beispielen anreichert. Diese Probleme sind aber nicht einfach da und müssen "nur" gefunden werden, sondern es handelt sich um theoriegeleitete, teilweise hochkomplexe Konstruktionen einer versierten Didaktikerin. Konstruktionen, die sehr oft weniger einer Logik der Irritation und des Fragens, sondern der Logik fachlich zu erreichender Kompetenzen folgen. Nicht ein "Problem" ist erkennbar der Ausgangspunkt des Planungsprozesses problemorientierten Geschichtsunterrichts, sondern eine (oft komplexe und nicht immer eindeutige) "Lösung" bzw. "Antwort", eine fachliche Kompetenz, die dann hochprofessionell problematisiert wird. Selbst in der Oberstufe dürften sich Probleme wie "Das Wirtschaftswunder - Gründungsmythos für die Bundesrepublik oder historische Tatsache?", "Die französische Revolution: Mehrere Phasen oder mehrere Revolutionen?", "Das Luther-Denkmal in Worms - eine Quelle oder eine Darstellung?" (68, 77, 113) höchstens in der Rückschau erschließen. "Authentische" Probleme, die Hensel-Grobe an anderer Stelle einfordert (52), die ja eben aus Sicht der Schülerinnen und Schüler "authentisch" sein müssten, sind das gerade nicht und dürften sich vorrangig im Bereich der Geschichtskultur finden. Ein großer Teil der von Didaktikerinnen und Didaktikern, Lehrerinnen und Lehrern geschichtsdidaktisch reflektiert gefundenen "Probleme" dürften daher durchaus nicht den Interessen der Schülerinnen und Schüler an den jeweiligen Geschichten entsprechen, obwohl Hensel-Grobe die Notwendigkeit von Schülerbezug und Diagnose bei der Konstruktion betont. Geschichtslehrkräfte erscheinen aus dieser Perspektive als Menschen, die helfen Probleme zu lösen, die es ohne sie gar nicht gäbe.
Anders als Hensel-Grobe hat dagegen Michele Barricelli im Sammelband von Heuer und Seidenfuß den Anspruch auf die Konstruktion allgemein sinnstiftender Probleme auf Basis einer Problemtypologie in seinem Plädoyer für eine narrative Problemorientierung inzwischen aufgegeben. [2] Er sieht sie eher als "Arbeitsform", mit der man sich vorhandenen problemhaltigen Geschichten nähert und ihr Orientierungsangebot in Frage stellt. (99) Problemorientierung beginnt bei ihm also nicht mit einem zu konstruierenden Problem als Initialzündung, sondern den Schülerinnen und Schülern bereits bekannten Geschichten. Seine konkreten Vorschläge zur Umsetzung muten dann aber doch eher konventionell an. Angesichts der Gewaltausbrüche in der Französischen Revolution könne man etwa fragen, wie grundstürzender Wandel auch ohne Revolution denkbar wäre, die national unterschiedlichen Formen der Erinnerung an Gefallene des Ersten Weltkriegs führe zu dem Problem, ob man den persönlichen Einsatz von "Soldat*innen im Krieg achten [könne], ohne die politischen Hintergründe zu verkennen." (100) Diese "Probleme" bilden dann wieder den Ausgangspunkt für "subjektives, selbstorientierendes [...] historisches Erzählen" (106), das nicht nach "Auflösung, Entwicklung von Verwicklung, Abbau von Spannung" sondern dem genauen Gegenteil strebe. (103)
Die Lektüre beider Werke hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Hensel-Grobe zeigt, dass Problemorientierung weiterhin eine probate Planungshilfe bleibt, die es ermöglicht, Geschichtsunterricht Struktur zu geben und die die Integration innovativer Ansätze, vom concept learning bis zur (De-)konstruktion von Narrationen, gestattet. Dafür bietet sie eine Reihe wertvoller Hinweise ohne das Konzept des POGU wirklich substantiell weiter zu entwickeln. Es sprechen allerdings nicht nur empirische Befunde [3], Unterrichtsmonotonie in der Praxis und die von Heuer und Seidenfuß angesprochenen Einwände dagegen, Problemorientierung als die Blaupause guten Geschichtsunterrichts anzusehen. Denn für weite Teile der im Schulunterricht verpflichtenden Inhalte stößt die Konstruktion von "authentischen" und "schülerorientierten" Problemen durchaus an Grenzen. Allen Beteiligten ist in der Regel sehr bewusst, um was es sich dagegen zumeist handelt: Zum Zwecke des Unterrichtens und des Lernens konstruierte Probleme. Das schließt gelingende individuelle historische Sinnbildung natürlich nicht aus - fördert sie aber auch nicht in besonderer Weise.
Anmerkungen:
[1] Michele Barricelli: Problemorientierung, in: Ulrich Mayer u.a. (Hgg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts 2007, 78-90 und Meike Hensel-Grobe: Problemorientierung und problemlösendes Denken, in: Michele Barricelli / Martin Lücke (Hgg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2, Schwalbach/Ts. 2012, 50-63.
[2] Dagegen noch Michele Barricelli: Problemorientierung, in: Ulrich Mayer u.a. (Hgg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts 2007, 78-90.
[3] So war von den von Peter Gautschi als "gut" identifizierten Geschichtslektionen keine im eigentlichen Sinn problemorientiert! Vgl. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Schwalbach/Ts 2009.
Christian Schmidtmann